Die fast wahre Geschichte von Vanessa

oder: der Eileiter Gottes

 

 

Vanessa hatte in ihrer Kindheit viele unsichtbare Freunde. Sie liebte es, an der Lagune zu sitzen und den Libellen beim Spielen zuzusehen, und die Elfen, die dort alles in Ordnung hielten, waren ihre besten Freunde und nahmen sich gerne die Zeit, mit ihr herumzualbern. Aber, jeder der einmal unsichtbare Freunde gehabt hatte, weiß das, irgendwann macht man den Fehler, den Eltern zu detailliert davon zu erzählen, und dann fangen die an, alles kaputtzumachen. Das sei nur Einbildung, daß sei auch nicht gut und gewollt, und zerren das arme Kind heraus in die kalte Realität, wo die Menschen sich gegenseitig das Leben schwer machen, weil sie die innere Anbindung an die Natur des Lebens verloren haben. Aber das ist dann ja auch die Aufgabe, die wir als Menschen haben: Wir sind in die Materie gefallen und bis wir nicht die Liebe in der Materie wiederentdecken, bleiben wir gefangen im karmischen Rad des Lebens.

Vanessa begann also ihren Weg in die Materie, sie ging mit einigem Befremden in die Schule, aber bald machte sie auch dort Freundinnen, die weniger magisch waren, dafür aber handfeste Hilfe bei den Hausarbeiten bieten konnten. Und als sich ihre Körper mit Weiblichkeit füllten, wurden die Jungs das bestimmende Thema, und Vanessa giggelte und kicherte genau wie die anderen auch über jeden nichtigen Anlass und suchte sich Jungs aus, mit denen sie angeblich gehen wollte, weil alle das so sagten. Solange die Jungs auf Abstand blieben, war das auch alles kein Problem gewesen, aber immer öfters gelang es ihren Freundinnen, sich heimlich für eine Knutscherei mit einem Jungen zu treffen, und irgendwann fiel es auf, daß Vanessa nichts in der Richtung unternahm. „Ich habe Angst vor meinen Eltern“ sagte sie. „Die würden das nicht gutheißen!“. Das stimmte aber nur bedingt, ihre Eltern waren zwar fromme Menschen, die einen gemäßigten Lebensstil pflegten, dennoch waren sie aufgeklärt genug, um zu wissen, daß die Jugend nunmal auch ihre eigenen Wege geht und es eigene Probleme mit sich bringt, sich dem Zeitgeist zu verweigern. Ihre Probleme wären also genau so überschaubar, wie die der anderen auch, und so ließ sie sich eines Tages dazu überreden, einen süßen Jungen zu treffen, der nichts anderes von ihr wollte, als ihr seine Zunge in den Rachen zu schieben und ihren Busen zu betatschen. Sie ließ ihn soweit gewähren, und auch als er ihr an die Wäsche wollte, fand sie nicht den Mut zu widersprechen und ließ alles mit sich machen, von dem der Junge schließlich sagte, daß sei doch normal und alle machten das.

Ihre Schwangerschaft versuchte sie zu verheimlichen, aber lange klappte das nicht. Ihre Mutter hatte sie schon seit ihrem unglücklichen Rendezvous im Blick gehabt und ahnte, das etwas nicht stimmte, und dann war es die morgendliche Übelkeit, die sie verriet. Es war keine Frage, daß das Kind abgetrieben werden sollte, Vanessa selber fühlte sich zwar unwohl bei dem Gedanken, aber ihre Mutter fragte nicht nach ihrer Meinung, und einige Tage später fuhr sie mit ihr in eine Klinik in der Nachbarstadt, von wo aus weniger Getratsche zu erwarten war.

Von da an hatte Vanessa wieder einen unsichtbaren Freund. Nachts hörte sie ihr Kind zu sich reden, das sie zwar einmal fragte, warum es nicht hatte leben dürfen, ansonsten aber einfach ihr Leben kommentierte und ihr riet, sich von den Jungs fernzuhalten und auch, sich andere Freundinnen zu suchen, die weniger coolen, und mit diesen guten Ratschlägen machte Vanessa die Schule zu Ende, ohne sich noch ein einziges mal auf weitere Schwierigkeiten einzulassen. Sie hatte sogar einen Freund, einen schüchternen Jungen aus der Nachbarschaft, der ihr manches mal Mathe erklären konnte und der sich ihr nicht aufdrängte. Ab und zu hielten sie Händchen miteinander, aber vor einem Kuß fürchtete sich Vanessa zu sehr.

Trotzdem waren ihre Noten lange nicht so gut, daß sie hätte studieren können, und so nahm sie eine Lehrlingsstelle bei einem Friseur an, wo sie wenig verdiente und noch weniger lernte, so daß sie sich bald nach einer neuen Stelle umsah, aber es wurde alles nicht wirklich besser. Sie arbeitete als Bürohilfe, Verkäuferin und Putzfrau, ehe sie schließlich als Krankenpflegerin einigermaßen zur Ruhe kam. Ihre Eltern waren unglücklich damit, denn nicht nur, daß sie kaum Geld nach Hause brachte, sie bekam dort auch keine Ausbildung und als einziger Ausweg für ihre Tochter, in eine gesicherte Zukunft zu gehen, schien zu bleiben, eine vielversprechende Heirat einzugehen. Vanessa war ja von der Sache her nicht abgeneigt, sie verabredete sich mit jungen Männern, die ihr freundlich erschienen, und ab und an hatte sie sogar so etwas wie einen Freund, aber spätestens, wenn es an den Sex ging, zeigte sich, daß sie ein echtes Interesse an Männern nicht hatte und schließlich zog sie sich immer mehr zurück.

 

Wieder war es ihre Mutter, die ihr einen Ausweg vermittelte. Ahnend, daß Vanessa andere Bedürfnisse hatte als die der normalen Menschen und fürchtend, daß sie sich schließlich den Freuden der Sappho verschreiben würde, fing sie unvermittelt an, Sonntags in die Kirche zu gehen, und es dauerte gar nicht lange, da kam Vanessa mit.

Vanessa wußte gleich, daß das das war, was ihr gefehlt hatte. Als der Priester in einer Sprache sprach, die sie nicht verstand, war sie plötzlich von Tränen gerührt und sie konnte die ganze Woche an nichts anderes denken. Ihr nie geborener Sohn sprach wieder zu ihr und sagte ihr, dort läge ihre Zukunft. Also ging sie zu den Gottesdiensten und es dauerte gar nicht lange, da war sie in die Gemeindearbeit integriert und hatte sogar einen richtiggehenden Job. Der war noch schlechter bezahlt als die Krankenpflege und bot ihr ebensowenig eine Ausbildung, dafür einen engen Draht zum Priester, der sich immer die Zeit nahm, ihr etwas zu erklären oder zu erzählen. Schließlich faßte sie soviel Vertrauen zu ihm, daß sie ihm von ihrer inneren Stimme erzählte, von dem Dialog mit ihrem ungeborenen Kind, und er warnte sie, sie dürfe nicht die Stimme Gottes mit der des Teufels verwechseln, und das sei manchmal nicht so leicht zu unterscheiden, aber von da an schickte er sie angelegentlich auch auf Seminare und Schulungen in die Hauptstadt, wo Vanessa andere Frauen wie sie kennenlernte, die sich nicht für Männer interessierten und manchmal Stimmen hörten, und zum ersten Mal seit ihrer Einschulung fühlte sie sich nicht als Außenseiterin, sondern als eine unter Vielen. Das war eine Erleichterung, und von da an fiel ihr das Leben besser zu, auf einmal wußte sie, was sie wollte, lernen, arbeiten und beten nämlich, in dieser Reihenfolge, und es dauerte gar nicht lange, da war sie sogar verliebt. Peter war ein charmanter junger Mann im Kirchendienst, der immer noch davon träumte, es einmal zum Priester zu schaffen, und sein Fleiß und Ehrgeiz traf sich mit ihrem Streben nach Rechtschaffenheit, so daß sie bald anfingen, über eine gemeinsame Zukunft nachzudenken und schließlich heirateten. Sie war der glücklichste Mensch auf Erden, dachte sie jedenfalls, aber wie es sich herausstellte, dachte Peter in seinem religiösen Wahn, daß er sie als Frau nun besäße und machte ihr Vorhaltungen und gab ihr Anweisungen und führte sich ganz so auf, als sei es das gottgegebene Recht des Mannes, über die Frau zu herrschen, und im Bett gab er sich nicht die geringste Mühe, sondern nahm sie sich ganz nach seinem Belieben, zärtlichkeitslos, bindungslos. Als seine beruflichen Pläne zunehmend in sich zusammenfielen, fing er an zu trinken, und damit wurde die Situation untragbar. Vanessa flüchtete nach Hause zurück, wo sie nur ungern aufgenommen wurde, da ihr Bruder geheiratet hatte und anfing, den Haushalt zu übernehmen und in ihm zu expandieren, und alle naslang kam Peter Abends betrunken vorbei und verlangte, man solle ihm seine Frau zurückgeben, bis ihr Bruder sich eines Abends erbarmte und ihn ganz fürchterlich zusammenschlug.

Vanessa aber war mit ihren gerade einmal fünfundzwanzig Jahren nun fast schon so etwas wie eine gescheiterte Existenz, man fing an, sie zu bemitleiden und über sie zu reden. Vanessa hielt es nicht mehr zu Hause. Eine Freundin in der Gemeinde vermittelte ihr eine Stelle in einem Kloster auf dem Land, wo sie ein Jahr arbeiten könne für Kost und Logis. „Danach mußt du entweder Nonne werden oder nach Hause kommen. Aber vielleicht ist dir dann einiges klarer geworden.“

Vanessa war dankbar für die Gelegenheit. Die Arbeit war harte Feldarbeit, das Leben geprägt von einem engen religiösem Ritual. Es war dort, daß sie zu fasten lernte. Ihr war aufgefallen, daß einige der Frauen nicht arbeiteten, und als ihr erklärt wurde, daß fastende Frauen von der Arbeit befreit wären, entdeckte sie für sich die Möglichkeit, im Fasten befreit von der Arbeit endlich einmal ausgiebige Zeit für sich zu haben. Das Fasten selber schien ihr nicht schwer, es war fast wie eine Befreiung von der Last des irdischen Daseins, und dann sprachen die Stimmen zu ihr, mit einer Klarheit, wie sie sie seit ihrer frühesten Kindheit nicht mehr erlebt hatte, und es war nicht nur ihr ungeborener Sohn und nicht nur die Elfen, die belustigt an den Klostermauern ihren staunenden Blicken zusahen, es war schließlich Gott selber, der zu ihr sprach, jedenfalls wußte Vanessa, daß es Gottes Stimme war, mit einer Gewißheit, die jeden anderen Zweifel verblassen ließ. Gott war es auch, der ihr riet, niemanden davon zu erzählen, insbesondere den Priestern und Äbtissinnen nicht, die eifersüchtig darauf wachen würden, daß hinter den religiösen Ritualen keine echte Spiritualität zum Vorschein käme.

Gottes Stimme wurde nun Vanessas ständiger Begleiter im leben, und ihr Leben änderte sich damit in einer Weise zum Guten, daß sie sich nicht hatte träumen lassen. Gott riet ihr, das Land zu verlassen und in der großen Metropole ihr Glück zu versuchen, und es dauerte gar nicht lange, da hatte sie nicht nur Job und Wohnung gefunden, sondern auch Lebensfreude und Neugier wiedergewonnen. Sie stürzte sich in das Großstadtleben im sicheren Vertrauen, Gottes Erlaubnis zu haben, und Gottes Stimme verstummte auch nicht, als sie tatsächlich einen Mann traf, der es verstand, ihre Lust zu erwecken. Der wahre Sex lag jenseits der Begierde, das begriff sie mit ihm und feierte die heilige Vereinigung der Liebenden, bis sie herausfand, daß er schon eine Frau hatte. Davon hatte ihr Gott nichts gesagt, und als sie in der folgenden Zeit verzweifelt versuchte, ihn auf ihre Seite zu ziehen, in den Bund der wahrhaft Liebenden, sprach Gott gar nicht mehr mit ihr. Das begriff sie aber erst später, als sie längst wieder, unglücklich verliebt und desillusioniert, zu Hause war. Immerhin bekam sie jetzt vernünftige Jobs, mit ihrer Metropolenexpertise, und Gott sprach auch wieder mit ihr, nachdem sie sich die Zeit genommen hatte, wieder einmal zu fasten. Sie war jetzt bald dreißig und hatte immer noch keinen Mann, aber sie hatte ihr Leben im Griff. Sie verdiente mehr als genug, sie traf sich mit Freundinnen aus der Gemeinde, und alle paar Monate nahm sie sich ein oder zwei Wochen Auszeit, um fastend ihren Gott wiederzufinden, der dann immer da war und auf dessen Stimme sie sich immer noch stets verlassen konnte.

Es vergingen wieder einige Jahre, ehe in ihr der Gedanke keimte, doch noch Mutter werden zu wollen. Noch war sie nicht zu alt und sie fühlte sich innerlich gefestigt und stark und bereit dafür. Mehr zufällig, als sie ihre Gedanken einem christlichen Chat anvertraute, machte sie dabei die Bekanntschaft von Charles, der in Europa lebte und mit dem sie sich nun seitenlang austauschte über Gott, über Kinder, über Heirat, über Männer und Frauen, über die Weltlage im Allgemeinen und das Leben in Afrika und Europa, und als sie das nächste mal fastete und Gott zu sich sprechen hörte, da sagte Gott, ganz klar und deutlich: „Heirate diesen Mann, das ist Dein Mann fürs Leben“, da vertraute sie ihm auch das an, und Charles machte ihr einen „bedingten Antrag“, wie er es nannte, er habe schon vor, sie zu heiraten, aber sie müßten sich in persona treffen, und dann könne er ihr erst einen richtigen Antrag machen. Das fand sie vernünftig, und nach einigen Monaten Vorbereitungen der Reise stand er plötzlich vor ihr und es war alles ganz leicht. Sie mochten sich, und sein dreiwöchiger Besuch endete mit einer großen Verlobungsfeier im Haus ihrer Eltern, die ob des Ausländers zwar befremdet waren, aber glücklich, ihre Tochter überhaupt noch einmal unter der Haube zu sehen, und immerhin versprach Europa auch Chancen, nur, erklärte er, sei daß mit den Chancen in Europa so eine Sache, und er jedenfalls könne sich gerade einmal ein kleines Zimmerchen mit Dusch- und Kochecke leisten, und ob sie da zu zweit glücklich werden, wisse er noch nicht. Afrika bringe auch einige Vorteile mit sich, und man verschob die Entscheidung, wo gemeinsam zu leben wäre, auf den nächsten Besuch, der ein halbes Jahr später stattfand. Häufiger ließ sich das Geld für eine Flugreise nicht zurücklegen, und als Vanessa ausrechnete, wie lange sie ihrerseits sparen müßte, um sich eine Reise nach Europa leisten zu können, wurde ihr ganz schwindlig angesichts der Beträge, mit denen sie da zu rechnen hatte.

 

Ihre Ehe war soweit glücklich, sieht man mal davon ab, daß sie sich nur alle halbe Jahr sahen und die erhoffte Schwangerschaft ausblieb. Nach seinem dritten Besuch ließ sich Vanessa ärztlich untersuchen um festzustellen, ob bei ihr denn alles in Ordnung sei. Das war es nicht. Bei ihrer Abtreibung waren die Eileiter beschädigt worden, und nun könne eine Operation zwar helfen, aber die war teuer und eine Garantie auf Erfolg gab es dabei natürlich auch nicht. Das war der Stand der Dinge, als die Aufregung wegen Corona begann. Zuhause in Afrika bemerkten sie gar nicht viel davon, aber Charles erzählte, daß in Europa das ganze öffentliche Leben lahmgelegt wurde. Diesmal kam er nach Afrika ohne Rückflugticket. „Alle verrückt!“ schimpfte er, „aber das ist kein Wunder! Da oben glaubt keiner mehr an Gott, und dann ist es nur logisch, daß die Leute angesichts einer Gefahr in Panik geraten.“ Vanessa pflichtete ihm bei. Ein Leben ohne Gott war undenkbar und unmöglich, diese Erfahrung hatte sie selber gemacht. Und Gott selber pflichtete ihr bei: „Hab keine Angst vor der Krankheit! Dein Glaube schützt Dich!“

Sie sparten auf die Operation, und nach einem Jahr hatten sie das Geld zusammen. An jenem Tag im Krankenhaus wurde Vanessa gefragt, ob sie schon geimpft sei. Sie verstand die Frage erst nicht recht, aber als man sie aufklärte, daß das eine Spritze sei, die gegen das Coronavirus helfe, stimmte sie bedenkenlos zu. Gott hatte gesagt, daß sie vor dem Virus sicher sei, aber vielleicht war ja die Spritze der Weg dahin, diese Sicherheit zu manifestieren. Die Operation verlief anschließend komplikationslos, und bei der Nachuntersuchung einige Wochen später, bei der man ihr dann gleich die zweite Coronaspritze gab, wurde ihr gesagt, daß alles gut aussehe und wünsche ihr viel Glück bei der Schwangerschaft. Erst jetzt erfuhr Charles von der Impfung, die sie nur beiläufig erwähnte, und ihm entgleisten die Gesichtszüge. „Bist du von allen guten Geistern verlassen? Das ist eine Spritze von gottlosen Menschen! Laß dich nicht auf die Seite des Teufels ziehen!“ Es war dieser unerwartete Wutausbruch ihres Mannes, von dem sie sich zunächst nicht erholte. Sie fühlte sich auf einmal schwach und hatte Schwierigkeiten, zu atmen. Nach einigen Tagen ging das vorbei, aber es blieb ein Schreck und ein Unbehagen, und irgendwie fühlte sich Vanessa nicht mehr so leistungsstark wie vorher. Sie ging nach wie vor ihrer Arbeit nach, und eigentlich war alles gut, nur ab und zu überkam sie ein Gefühl der Beunruhigung, und wenn sie an Gott dachte, antwortete er nicht. Sie fastete, aber immer noch bekam sie keine Antwort von Gott, und langsam wuchs ihr Unbehagen, ein nicht näher greifbares Gefühl, daß irgend etwas nicht stimmte.

Charles nahm sie in den Arm und tröstete sie, aber auch das half nicht. „Ich muß härter fasten“ sagte sie eines Tages, „ich brauche die Verbindung zu Gott zurück!“

Charles hatte seine Theorie, daß die Impfung ihre Verbindung zu Gott gekappt hätte. „Das ist der Zauber der westlichen Satanisten“ sagte er. Sie zerstören unsere Spiritualität mit dieser Impfung!“ Vanessa glaubte ihm nicht. Sie hatte in ihrem Leben viel Dummheit kennengelernt, und noch mehr Gedankenlosigkeit, aber fast nie etwas Böses. Die Männer, die sie enttäuscht hatten, waren gedankenlos gewesen und dumm, rücksichtslos, aber nie absichtlich grausam. Das Böse, so dachte Vanessa zu wissen, ist das ungenügende Gute in uns drinnen. Was böse wirkt, ist fast nie böse gemeint.

Zum harten Fasten ging sie zurück in ihr Kloster, wo sie drei Tage nichts zu sich nahm. Keine Nahrung, kein Trinken, kein Wasser. Sie hatte das damals einmal gemacht, und damals war ihr Gott begegnet. Aber jetzt blieb er stumm. Hatte Charly recht mit seiner Theorie?

Am dritten Tag hatte sie merkwürdige Schmerzen auf ihre rechten Seite, und sie verzögerte das Fastenbrechen um einen halben Tag, weil sie dachte, vielleicht redet Gott dann doch noch mit ihr. Als sie dann wieder trank, war es schon zu spät. Sie verschluckte sich und kam in Atemnot, und dann war ihre Seite gelähmt. Sie konnten sie noch ins Bett schleppen, wo Vanessa noch drei Tage mit dem Tode rang. Charles wurde benachrichtigt und kam zu ihr und weinte an ihrem Bett, während Vanessa von oben zusah, wie ihr Körper langsam in sich zusammenfiel. Sie sah das kleine Kind in ihrem Bauch, das winzige Wesen, gerade ein paar Wochen alt. Und sie sah den Knoten des Eileiters, der aber ganz woanders steckte, im Gehirn, wo ein dunkler Fleck war an der Stelle, wo Gott hätte sein sollen. Sie begriff, daß sie Gott nie wieder sehen würde und starb verzweifelt in Charles verzweifelten Armen.

 

Sie irrte umher. Es war so ungerecht, so gemein. Warum starb sie ausgerechnet dann, als sie ein neues Leben doch austragen wollte? Sie war wütend, weil sie dieser Impfung die Schuld gab, sie fühlte sich betrogen und hintergangen, und erst langsam begriff sie, daß sie es gewesen war, die diese Operation auf sich genommen hatte, und das allein war schon ein Eingriff in Gottes Plan gewesen, das war schon zu viel eigenmächtiges Wollen gewesen, zuviel Plan, zuwenig Demut, zuwenig Ergebenheit.

Charles betete immer noch für sie, und mit ihrer Hilfe, und der Hilfe ihres ungeborenen Sohnes, ihres ersten, ihres nie geborenen Sohnes, gelang es ihr, daß grausame Dunkel um sie herum zu durchbrechen und ein Licht zu finden, mit dem sie sich vereinigen konnte. Das Rad des Lebens konnte sich weiter drehen.

 

Charles seinerseits war gestrandet in dem Land, an das ihn nichts band als seine verstorbene Frau. Er erzählte jedem, der es hören wollte, davon, daß seine Frau an der Impfung verstorben sei, und bald war in der Gemeinde keiner mehr, der sich impfen lassen wollte. Dann aber erklärte der Priester eines Tages von der Kanzel, das der tragische Todesfall von Vanessa eingetreten sei, weil sie zu intensiv gefastet habe, und sie sei ein Beispiel dafür, wie gefährlich es sei, dem Fanatismus zu frönen. Besser sei es, in Demut zu leben und im Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit. Und wenn einem eine Impfung angeboten werde, solle man diese ruhig annehmen, denn das sei das, was Menschen nunmal machen: Sie fügen sich drein, denn das sei so gottgewollt.

Charles wurde von da an in der Gemeinde zunehmend gemieden, und als er nicht locker ließ und weiter seine Geschichte verbreitete, fand man einen Verstoß gegen das Einwanderungsgesetz, der ihm zur Last gelegt werden konnte, und seitdem hat niemand mehr etwas von ihm gehört.