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ROSS, DER NEANDERTALER

Erstes Buch

 

1

 

Ross, der Neandertaler, hütet das Feuer. Es muss heiß bleiben, damit das Pech entsteht, mit dem die Pfeilspitzen an die Schafte geklebt werden. Er starrte ins Feuer. Solange er denken konnte, starrte er gerne ins Feuer. Er sah die Scheite brennen, sich auszehren lassend vom Feuer, dessen Glut sie nährten. Das Spiel der Farben und Formen, die Flammen die hoch leckten und tief glommen, das war das, womit er sich beschäftigte, in der Nacht und am Tage, denn ausgehen durfte das Feuer nicht, niemals. Im Grunde hätte er gewusst, wie ein neues Feuer zu entfachen sei, ein älterer Mann hatte ihm das gezeigt, mit zwei Steinen über dem sorgfältig zusammengesammeltem Zunder sitzen, und dann wild, als gäbe es kein Morgen, die zwei Steine mit solcher Inbrunst gegeneinander zu schlagen, bis sie gelegentlich einen Funken werfen, der mit Glück auf dem Zunder landet, und dann, sollte der wertvolle Moment gelingen, sofort den klitzekleinen Glimmfunken hüten und bepusten, bis ein neues Feuer sich fängt. Aber in den meisten Fällen endete ein solcher Versuch eher in gestauchten Fingern, als in dem Wunder, und so hüteten sie das Feuer, tagein, tagaus, in der Nacht, im Regen, im Sturm. Es gab eine Höhle in der Nähe, wo es ein zweites Feuer gab, aber die Menschen dort waren anders, sie schienen sich immer einig in dem was sie taten und Ross hatte Angst vor ihnen. Er wusste nicht, ob sie ihm Feuer geben würden, wenn er drum fragte, oder ob sie ihn verjagen würden. Man ließ sich in Ruhe.

Das Feuer war seit Ross denken konnte nicht ausgegangen, immer hatten sie es verteidigen können, in ihrer Erdhöhle unter einem großen Stein, die sie mit Ästen, Zweigen und Flechtwerk, mit Fellen, Moos und Soden vor den Elementen verteidigten. Er lebte mit drei anderen Männern, zwei Frauen und fünf noch halbwüchsigen Kindern darin und darum, und die meiste Zeit konnten sie sich nicht beklagen. Sie streiften durch die Wälder und jagten nach Tieren, sie sammelten Früchte und Nüsse, Hunger kannten sie selten, Kälte mussten sie erdulden, zusammengekuschelt in der Erdhöhle am Feuer. So war das Leben, so war es immer gewesen. Und doch konnte Ross ein Gefühl nicht unterdrücken, für das er überhaupt keine Worte hatte. Es ging nicht um Freude oder Wut oder Leidenschaft, es ging eigentlich überhaupt um gar nichts, nur um das, was im Feuer zu sehen war, diese sich umeinanderschlingenden Glutwirbelflammen, das Spiel von Rot und Gelb und den Myriaden von Farbtönen dazwischen. Ross hatte sie alle gesehen, wenn er auch keine Worte dafür hatte. Er hatte überhaupt wenig Worte. Namen hatten sie. Er war Ross, und der Alte war Geir, und die Schöne Lies, dann Mero und Say, die nie ohne einander unterwegs waren, und die Kinder, Miss, die Tochter von Lies, und Lay, Joos, Dars und Leif, die Kinder von Say. Letzten Winter war noch eine ältere Frau bei ihnen gewesen, sie hatte sehr an Geir gehangen, und sie war gestorben und seitdem nannte man ihren Namen nicht mehr, weil es Unglück brachte, die Toten anzurufen. Außerdem war noch Jess bei ihnen, ein stummer Junge, den sie einmal bei einer Jagd gefunden hatten, und der seitdem bei ihnen lebte. Jess schien dumm zu sein, er tat wenig aus eigenem Antrieb, aber da er stark war und immer Holz aus dem Wald für das Feuer sammelte, durfte er bleiben.

 

Ross starrte ins Feuer. Es hatte sich jetzt beruhigt, die Äste waren verbrannt. Die Glut würde noch stundenlang halten, aber heute hatte Ross Pech vorbereitet. Der Klebstoff war ihre Geheimwaffe, der ihnen ihr bequemes Leben ermöglichte. Mit ihren stabilen Speeren war es so einfach, Wild zu erlegen, und davon gab es mehr als genug. Natürlich kannte Ross sie alle. Die Dachse und Biber, Enten, Schweine, er wusste, wo sie schliefen, wo sie aßen, wo sie jagten und wie viele es waren.

Irgendwo in den Flammen schien ihm einmal ein Traum gewesen zu sein, da war jeder Familie ihr Platz zugeteilt gewesen und jeder bewegte sich auf den Wegen, die ihm zugedacht waren, und alle waren sicher und versorgt. Aber er hatte keine Worte dafür, das beschreiben zu können. Und es war ja auch ein alberner Gedanke. Wozu sollte man die Natur ordnen wollen, wenn alles sowieso an seinem Platz war?

Aber er jetzt sah er, dass er sich doch ärgerte über die anderen Menschen bei der Höhle. Wenn er es recht bedachte, wollte er gar nicht mehr dahingehen, wo die Nähe zu der Höhle das Risiko barg, auf welche von denen zu stoßen. Irgendwie waren sie keine richtigen Menschen, und sie sahen auch so albern aus mit ihrer hohen Stirn und ihrem vielen Gerede. Kein Mensch konnte sich ausdenken, was die sich untereinander zu sagen hatten. Sie waren ja mal hingegangen, vor Jahren, als die Neuen kamen. Ross war dabei gewesen, mit Geir und der Frau, deren Namen man nicht mehr nennt, und fünf Leuten von der anderen Sippe vom See. Damals hatten sich Saw und Mer kennengelernt und waren seitdem unzertrennlich. Zu zehnt sind sie also zur Höhle gegangen, und die anderen standen da und ließen sie näher kommen. Dann standen sie voreinander, die einen vor der Höhle, die anderen vor dem Wald.. Keiner wollte kämpfen. Einer der Neuen sagte etwas zu ihnen, aber sie verstanden ihn nicht. Als Geir seinerseits sie begrüßte, lachten sie nur und schienen ebenso wenig zu verstehen. Aber sie tauschten ein paar Geschenke aus und saßen einen Abend lang zusammen am Feuer. Einer von ihnen stand auf und ging im Kreis ums Feuer, dabei klatschte er in die Hände und summte vor sich hin. Ross verstand nicht, warum er das machte, aber wie er so vom Feuer angeschienen wurde, schien er zu einem Teil des Feuers zu werden, und das ist ein Bild, das er seither in seinen Gedanken trägt. Ansonsten redeten die Neuen untereinander und die Besucher starrten ins Feuer, Mero und Sam taten sich zusammen, aber den anderen wurde immer unwohler zumute und keiner schlief, bis das erste Morgenlicht die eilige Rückkehr zu ihren Erdhöhlen ermöglichte. Sie gingen in ihr Leben zurück, aber irgendwie war es seitdem nicht mehr dasselbe. Sie meiden die Richtung, in der die neuen Menschen sind, und doch geht ihr Sehnen dahin. Lies wandert manchmal in die Richtung, sie sehnt sich mehr als die anderen, aber was will sie bei denen?

 

 

2
Lies war allerdings an dem Tag nicht zurückgekommen. Er machte sich keine Sorgen, das passierte schonmal, das man bei Ausflügen zu weit abkam, und dann die Nacht irgendwo im Dunkeln, zusammengekauert und alleine verbringen musste. Das war unangenehm, aber nicht weiter schlimm. Wenn Bären oder Wölfe in der Nähe waren, war es vielleicht auch gut, sich in einen Baum zu verstecken. Das schlief sich nicht so gut da drin, aber es war sicherer. Also würde Lies morgen zurückkommen. So war der Lauf der Welt. Heute Nacht würde er sowieso kein Auge zu tun, um das Feuer zu hüten und hoch zu halten, er würde dafür morgen den Tag verschlafen, nachdem er das Pech in einen Schweinelederstreifen eingewickelt hätte. Mero und Sam würden dann die neuen Waffen damit herstellen, wobei Geir sie immer wieder zur Sorgfalt ermahnte, wovon die beiden nichts wissen wollten.

Ross hatte keinen wirklichen Begriff von der Zukunft, aber manchmal schien es ihm doch Sorge zu bereiten, wenn er daran dachte, wer die Pechherstellung von ihm denn lernen sollte. Saws Kinder waren alle tumb, mehr lärmend als verständig, mit bescheidenem Geschick bei der Jagd, aber ansonsten geradezu nachlässig. Sie wickelten ihre Felle nicht richtig und hatten einfach kein Interesse. Lies Tochter war anders, sie war wach und neugierig, interessierte sich für Pflanzen und probierte immer wieder was aus. Sie hatte einen kleinen Pflaumenbaum, den sie von Unkraut freihielt, damit er wachsen konnte, und wo sie hinkam, lag immer ein Lächeln in der Luft, aber für das Feuer interessierte sie sich nur mäßig. Und so hatte Ross das Gefühl, dass ihre kleine Wandersippe sich über kurz oder lang wieder mit einer anderen Sippe zusammentun musste, um lebensfähig zu bleiben. Das war der Lauf der Welt.

Lies unterdessen hatte etwas anderes im Herzen. Sie sehnte sich nach den neuen Menschen und konnte nicht davon lassen, sie zu beobachten.

Ab und zu ging sie hin, und beobachtete sie aus der Ferne. Die Neuen ließen sie gewähren, aber wenn sie zu nahe kam, dann lachten sie sie aus, oder warfen auch mal einen Stein nach ihr, um ihr klar zu machen, dass sie sich trollen solle. Ihrer Sehnsucht tat das keinen Abbruch. Sie bewunderte die Sorgfalt, mit der diese Menschen ihre Steine behauten. Sie waren es nicht zufrieden, wenn ein Keil gut in der Hand lag und eine Spitze aufwies. Sie schlugen solange auf den Stein ein, bis er eine sauber geschliffene Kante hatte, mit denen sich sogar Leder schneiden ließ. Sie probierte das auch zu Hause, aber es war ihr schleierhaft, woher man diese Geduld aufbringen sollte. Es war schon so schwer genug, einen Faustkeil herzustellen. Aber diese Menschen nahmen sich die Zeit dafür. Und dann redeten sie und redeten. Immerzu! Manchmal dachte sie, vielleicht haben die ganzen Worte ja gar keinen Sinn, und das ist nur ein Geräusch das sie machen, wie ein Baum mit seinen Wipfeln im Wind flüstert, aber dann lachten alle auf einmal gleichzeitig, und da musste es also doch einen Sinn gegeben haben.

 

 

3

 

2% vom Genmaterial eines heutigen Durchschnittseuropäers stammen vom Neandertaler ab. Das heißt, wenn ich von meinen Eltern je 50% habe, und von meinen Großeltern je 25%, dann habe ich von meinen Urgroßeltern 12,5%, von meinen Ururgroßeltern je 6,25%, von meinen 32 Urururgroßeltern je 3,125%, und etwas mehr als einer meiner 64 Ururururgroßeltern ist dann doch ein Neandertaler gewesen, jedenfalls im Durchschnittswert. Das ist mehr als ein zufälliges Einsprengsel, das hat schon eine systematische Häufigkeit, wenn auch keine sehr große.

Ob es Geschichten sind von Menschenraub und Vergewaltigung, von einem kulturellem Austausch, oder von einem geheimen Einverständnis zwischen Außenseitern aus dem die schönsten Liebesgeschichten hervorgehen sind, bleibt erstmal dahingestellt. Jedenfalls waren es, im Gegensatz zu den heutigen verschiedenen Menschengesellschaften, verschiedene Rassen, die sich dort kreuzten. Ihr Grundaufbau unterschied sich. Der Neandertaler hatte eine flachere Stirn, konnte definitiv nicht so gut sprechen wie der moderne Mensch, war aber nicht nur kräftiger, sondern konnte besser sehen und hören und die Sinneseindrücke besser verarbeiten. Trotzdem war er im Ganzen weniger zur Zusammenarbeit befähigt als der „homo sapiens“. Es spricht viel dafür, daß der Sapiens den Neandertaler nicht ausrottete, sondern verdrängte. Platz gab es damals noch genug auf der Erde, es war kein Problem, nebeneinander her zu leben, nur das die besten und geschicktesten Neandertaler sich von den Sapiens angezogen fühlten, weil sie was lernen mochten, neugierig waren, und die Neandertaler hörten auf, sich auf sich selber zu fokussieren und auf ihr eigenes Überleben.

 

Der Sapiens, dessen individuelle Gehirnleistung die des Neandertalers nicht erreicht, weshalb die Bezeichnung „sapiens“, zumindest als Abgrenzungskriterium zum Neandertaler, sachlich gesehen eigentlich falsch ist, der Homo sapiens also ist nicht dafür bekannt, artfremden Individuen mit Respekt oder Hochachtung zu begegnen. Er sorgt im Gegenteil, seit er auf der Erde herumläuft, dafür, dass die Arten um ihn herum sterben. Er jagt die Tiere, nicht, bis sie wenig geworden sind und die Population sich wieder erholen muss, wie es vernünftigere Jäger tun, er jagt, bis keines mehr übrig ist und sucht sich dann notgedrungen ein neues Opfer. Die frische Erde von vor 100.000 Jahren war ein Paradies für viele Arten, die es heute nicht mehr gibt. Dabei gab es mehrere Ausrottungswellen. Die erste fiel mit der Ausbreitung des Homo sapiens zusammen. Die Menschen jagten insbesondere die Großsäugetiere, bis keines mehr von ihnen übrig blieb. Diese Phase endete spätestens mit dem Verschwinden des Mammuts. Die nächste Phase begann mit der Landwirtschaft und der Nutzbarmachung des Bodens für den Menschen. Den Wildtieren wurde jetzt nur noch der Raum gelassen, der schwer urbar zu machen war, die Gebirge, die unbewohnbaren Randgebiete der Wüsten und Steppen. Spätestens mit dem Auftauchen der Indoeuropäer, mit Streitwagen, Pferden, mit Rädern und Waffen vor 5000 Jahren war dann die Zeit der friedlichen Expansion vorbei und die Menschen entdeckten ihr neues Kerngeschäft, das Töten und Beherrschen von Mitmenschen, was der Natur insofern eine Atempause gab. Aber mit der Industrialisierung lief die nächste große Vernichtungsmaschinerie an, die heute zum größten Massenaussterben der Erdgeschichte führt.

 

Es ist wahrscheinlich falsch, dem Menschen daraus einen Vorwurf zu machen. Es liegt in seiner Natur. Obgleich er auf der sittlich moralischen Ebene durchaus auch schon Instrumente entwickelt hat, die ihm eine Kontrolle dieser Natur ermöglichen würden, fehlt ihm zur konstruktiven Anwendung noch das Organisationstalent. Und so zerstört der Mensch sehenden Auges die Welt von der er lebt, und kann nichts dagegen machen. Das ist tragisch, und es hilft nichts, das zu beschönigen.

Aber immerhin hat der Mensch gelebt und in jedem Menschen gibt es soviel Schönheit, dass wir über die Tragik gerne hinwegsehen, und uns lieber fragen: Woher kommen wir? Was hat uns zu dem gemacht, die wir sind?

Und es gibt keine Antworten auf diese Fragen, nur Hinweise, einzelne Puzzlestücke in einem Meer von Unwissen, und die legen wir uns so zurecht, so wie wir es am besten denken können, ohne zu wissen, ob wir der Wahrheit damit auch nur nahe kommen, denn natürlich kann es noch ganz anders gewesen sein. Wir nehmen eine Evolution an, aber auch Götter und Außerirdische können ihre Finger im Spiel gehabt haben, was wissen wir denn schon? Erst im Nichtwissen offenbart sich des Menschen Schönheit. Wer uns als die Krone der Schöpfung versteht, als die klügsten Wesen, die je gelebt haben, der kann nur kopfschüttelnd das Scheitern konstatieren. Aber der, der weiß, daß er nichts weiß, steht bewundernd vor einem gewaltigem Wunder der Erdgeschichte, der Bewusstwerdung ihrer Bewohner. Und so lassen Sie uns fiktive Fenster aufstoßen in eine Vergangenheit, die es vielleicht nie gegeben hat, die vielleicht aber auch uns erklärt, wieso wir sind, wer wir sind.

 

 

 

4

 

Die Erde, ohne es zu weit ausspannen zu wollen, befindet sich in ständiger Bewegung. Das betrifft nicht nur die Kontinentalplatten. Das betrifft alles und jeden Aspekt des Daseins. Die Erde dreht sich um sich selber, sie dreht sich auch um die Sonne, die sich um die Galaxie , die sich um andere Universen dreht. Das Meer ist in Bewegung, die Erde ist in Bewegung, die Luft ist immer in Bewegung, das Feuer verbrennt alles. Irgendwann. Wir drehen uns auf geborgter Zeit durch das Universum. Nichts ist von Dauer, alles ist stetiger Wandel, die Meere, die Ozeane, die Gebirge, alles.

 

Vor 6 Millionen Jahren lag das Mittelmeer trocken. Die afrikanische Savanne erstreckte sich bis ins Mark Bayerns, die Mittelmeersenke war eine große, alles verdorrende Wüste, hinter der sich die fruchtbaren Berge Afrikas und Europas erhoben. Menschenaffen, Schimpansen und Gorillas bestimmten das Geschehen, oder waren Teil von ihm. Affen übrigens, die damals auf zwei Beinen liefen. Vor 5 Millionen Jahren wurde dann das Mittelmeer geflutet. Das kam so: Die afrikanische und die europäische Kontinentalplatte waren zunächst durch den Tetris Ozean voneinander getrennt. Im Zuge der Annäherung beider Platten wurde aus dem Ozean Tetris ein Meer Tetris, dann, als Arabien mit dem Iran fest verbunden war, und sich die Platten bei Gibraltar trafen, eine Tetrissee, bzw. das Mittelmeer, wie wir es nennen. Der trocknete schließlich ganz aus, weil all das Wasser Nordafrikas und Südeuropas nicht ein Meer füllen kann von solcher Größe. Das kann nur der Ozean. Und der kam wieder. Es bedurfte nur einer winzigen Erschütterung, um das schmale Band am Fels von Gibraltar für einen Fluss zu öffnen, und wo das Wasser erstmal fließt, da bahnt es sich seinen Weg. In wenigen Monaten wurde das Mittelmeer gefüllt und Europa und Afrika waren wieder getrennt.

 

Die europäischen Menschenaffen konnten sich, als das subtropische einem gemäßigtem Klima wich, nicht halten, in Asien mag es Prähominiden gegeben haben, aber in Afrika entwickelte sich, so sagt es die gängige Theorie, die Gattung Mensch vor 2 Millionen Jahren. Der Mensch benutzt Steine nicht nur, er bearbeitet sie auch, um sie besser nutzen zu können. Er überwindet seine instinktive Angst vor dem Feuer. Er kümmert sich um die schwachen Mitglieder seiner Gemeinschaft. Wie aber und wo entsteht diese Form des Bewusstseins, die uns zur Sprache treibt, zum systematischen Erfassen der Welt? Ich stelle hier die Behauptung auf, daß es das Feuer war, das Feuer und nichts weiter. Ein Affe überwindet seine Angst und guckt ins Feuer. Als Mensch guckt er wieder auf. Die Meditation am Feuer ist es, die aus Affen Menschen gemacht hat. -

 

Wenn wir denn vom Affen abstammen, und vorausgesetzt auch, die Götter und Außerirdischen haben nicht mehr an uns herumexperimentiert, als wir wissen können. Sie mögen diesen Prozess beschleunigt haben, durchgegangen müssen wir selber sein. Das Lernen dauert so lange es dauert, und die große Lehre von Allem von einem Feuer erklären zu lassen, das dauert Jahrhunderttausende. Nämlich genau 15. Vor 1,7 Millionen Jahren begannen die Menschen, sich mit dem Feuer anzufreunden. Vor 200000 Jahren entwickelte sich der Homo Sapiens mit seinem Ichbewusstsein, seinem Kulturwillen und seiner Grausamkeit.

 

Der Homo sapiens also. Vor 144000 Jahren lebte am Oberlauf des Nils eine Sippe von 18 Männern und 12 Frauen, die die Ureltern aller heute lebenden Menschen sind. Das kann man bezweifeln, muss man aber nicht. Diese Hypothese ist gut genug, um vielleicht nicht als wahr, aber auf jeden Fall als zweckdienlich zu gelten. Diese Menschen hatten 50 Wörter, die sich bis heute in allen Sprachen der Welt als Wortwurzel erhalten haben, so jedenfalls können Sprachforscher behaupten, und so stellt sich die Menschheit heute dar. Die Unterschiede, die wir zwischen den verschiedenen Phenotypen der Menschen sehen, haben sich seitdem herausgebildet, unterstützt durch geringfügige genetische Beimischungen der älteren Menschenrassen.

Der Homo sapiens begann, sich auszubreiten. Er erreichte Kleinasien vor vielleicht 100000 Jahren, gesellte sich in Europa und Asien zu den Neandertalern und den anderen Menschenarten und rottete sie in den nächsten Jahrzehntausenden aus. Er erreichte vor 45000 Jahren Australien und rottete die dortigen Großsäugetiere aus. Er fing an, Schmuckstücke herzustellen und Flöten, und bemalte schließlich Wände. Und irgendwann, verflixte Unerklärlichkeit der Ereignisse, plötzlich war der Mensch auch in Amerika. Vor 15000 Jahren. Oder 17000 Jahren, vielleicht auch 13000, man kommt immer durcheinander, je nachdem ob sich die Zeitangaben auf vor Christi Geburt oder auf vor Jetzt beziehen, das sind ja immerhin zweitausend Jahre, und die in jede Richtung falsch gerechnet sind 4000 Jahre daneben. Aber der Mensch war in Amerika. In Chile. Gemäß der gängigen Theorie über Alaska eingewandert und dann in einigen hundert Jahren bis nach Chile gesiedelt. Denkbar ist es, wenn es auch nicht den identischen Magenparasiten erklärt, an den Menschen sowohl in Südostasien als auch in Südamerika gestorben sind, und der in Frostgegenden nicht überleben kann.

Also hat man sich überlegt, daß bereits die Steinzeitmenschen vor 15000 Jahren im Sundaland eine hochgestellte Kultur entwickelt haben könnten und Boote gebaut haben, und auf einer Arche nach Amerika gelangt sind, als das Sundaland überflutet wurde, wovon die Sintflutmythen der Völker erzählen.

 

Gemeinhin nimmt man jedenfalls an, daß der Homo Sapiens sich in Afrika entwickelt hat. Ganz genau weiß man es nicht. Könnte es auch in Asien oder Europa gewesen sein, oder gar an mehreren Orten gleichzeitig, unter der Hypothese, daß sich die Evolution teleologisch entfaltet, auf ein bestimmtes Ziel hin, das gesetzt wurde von der Idee Gottes? Das weiß man alles nicht.

Wozu ein ein Konzept von Gott erfinden, wenn es keinen Gott gibt? Geht das überhaupt? Natürlich könnten sich Menschen, quasi aus der Materie heraus, als wirksamste Tiere durchgesetzt haben und ihre Intelligenz nur eine biologische Funktion sein, ein Mittel im Kampf ums Überleben sozusagen, aber wie, frage ich, könnten sich solche Wesen das Konzept eines Gottes ausdenken? Wie kommt man auf so eine Idee, wenn das Gehirn nur Algorhythmen reproduziert?

Die Idee beweist sich selber. Da es die Idee von Gott gibt, muss es Gott auch geben, sonst könnte die Idee nicht existieren. - Ich weiß nicht, ob sie, werter Leser, sollten sie ungläubig gewesen sein, nun bekehrt sind angesichts dieses Gottesbeweises, mich jedenfalls überzeugt er. Ohne Gott ist die Welt nicht denkbar. Denn Gott ist ein Prinzip: Das Prinzip, das alles sich dreht und bewegt, daß alles im Fluss ist, in der Entwicklung, und alles getragen wird von der einen Idee der Vervollkommnung, was immer das sein mag. Gott ist der Sinn des Lebens, ihm zu dienen heißt sich zu verwirklichen, denn Gott ist nichts anderes als die perfekte Version eines selbst, die als Idee schon angelegt ist, und ohne die das Leben keine Richtung, keinen Sinn hätte.

 

Wie wir es auch drehen und wenden, alles ist im Wandel, nichts bleibt von Dauer und wir sind nur geworfen in das Rad der Zeit, vergebens hoffen wir, über uns hinauszuwachsen und anderes zu erreichen. Das Leben ist nur hier und jetzt, und alles andere hat keine Bedeutung. Du bist nur eine Idee, deren Umsetzung du verfolgst, Du kannst zur Vollkommenheit streben, wie immer sie für dich aussieht.

 

Wir haben also verschiedene Theorien. Das Aliens, in welcher Weise auch immer, hier auf der Erde mitmischen. Das wir vielleicht selber die Aliens sind. Oder genetische Experimente der Aliens. Oder das sie sich Götter genannt haben und die Menschen erzogen. Sie ans Feuer gesetzt haben. Oder gar die Erde selber geformt. Das ist auch so eine Theorie: Wenn nun Götter oder Außerirdische mit einem anderen Begriff von Zeit unsere geistige Entwicklung forciert oder ausgelöst haben könnten, dann könnten sie auch schon vor 65 Millionen Jahren das Aussterben der Dinosaurier, oder richtiger müsste man dann sagen: den Genozid an den Dinosauriern durchgeführt haben, weil die Viecher nun wirklich jede konstruktive Entwicklung auf der Erde unmöglich machten und beseitigt werden mussten, woraufhin sich die Säugetiere entwickeln konnten, und mit denen ließ sich schon wesentlich mehr anfangen. Bis hin zu der Hypothese, daß wir Menschen eine Kreuzung aus Gott und Affe sind, geschaffen, um die Goldvorkommen in den Bergen der Erde zu bergen.

 

So könnte es gewesen sein, so oder anders. Es gibt mehr oder weniger plausible Erklärungsmuster, aber keines ist so zwingend richtig, daß es die anderen ausschließen würde. Die Vergangenheit ist vergangen, und nichts kann sie zurückholen, außer unzuverlässige Indizien, die viel Raum lassen für Spekulation. Aber bei all dem sei noch auf ein Mysterium verwiesen, das beweist, das wir nicht ansatzweise wissen, was wirklich passiert ist: Das ist die Pyramide von Gizeh. Sie steht als Monument göttlicher Genialität völlig isoliert von allem anderen, was davor oder danach in der Geschichte, von der wir wissen, passiert ist. Der Materialismus kann alles erklären, nur eines nicht: die Pyramide von Gizeh. Und deshalb können wir uns auch von der Vorstellung verabschieden, wir seien die klügsten Wesen, die auf dieser Erde je gelebt haben. Nein, sind wir nicht. Wer auch immer diese Pyramide erbaut hatte, hatte uns etwas voraus.

 

 

 

 

 

 

5

 

„Neue. Knochen. Werkzeug. Fische!“ Das war das Statement von Lies, das, da es noch keine Präpositionen, Bindewörter und grammatikalische Konstruktionen gab, mit anschaulicher Zeichensprache zu der Erklärung zusammengesetzt wurde, daß die Neuen anscheinend aus Knochen Werkzeuge hergestellt hätten, mit denen sich Fische fangen ließen. Ross schaute sie ungläubig an. Es war sehr schwer, Knochen zu bearbeiten, weil sie porös waren und schnell brachen, wenn man sie falsch anfasste. Holz war da wesentlich zugänglicher, aber Lies beharrte darauf, Knochen müßten es sein, und so fingen sie an, alte Konchen aus ihren Müllbergen zu fischen und da Widerhaken hineinzumeisseln. So wollte sie es von den Neuen gesehen haben. Aber es gelang ihnen nicht, etwas brauchbares daraus herzustellen. „Du Neuen!“ sagte er, mit dem Hinweis gehen. Das war leichter gesagt als getan, denn Lies war kein gern gesehener Gast bei den Neuen. Im Gegenteil, sie verjagten sie stets, wenn sie sie sahen, und Lies mußte schnell sein, um nicht erwischt zu werden, denn dann drohten Prügel. Aber sie hatte gesehen, wie die Neuen am Fluss fischten und diese mit Widerhaken versehenen Knochen benutzten, und das wollte sie auch. Die Schwierigkeit am Fische fangen war ja, das die Fische in ihrem Element so schnell wieder entflohen, und wenn man meinte, einen zu haben, hieß es noch nicht, das man wirklich einen hatte. Immer wieder glitten einem die kleinen Scheißer durch die Hände und man stand doch mit nasser leerer Hand da. Ein spitzer Stock konnte manchmal Wunder wirken, aber auch mit ihm brauchte man Geschick und Glück. Wie anders die Neuen, die ruhig am Fluss saßen und mit ihren Knochenhaken spielten, auf die sie manchmal Regenwürmer steckten, wie Lies zu berichten wusste. Damit lockten sie einen Fisch an, der verbiss sich in den Haken und man brauchte ihn nur noch herauszuziehen. So einfach sah es aus. Vielleicht war es so einfach, wenn man nur gewusst hätte, wie.

Ihre kleine Horde lebte dabei weiterhin glücklich vor sich hin. Sicher, sie waren klein geworden, zu klein vielleicht, aber früher oder später würde wieder jemand dazustoßen, so war es immer gewesen, so würde es immer sein. Die Neuen siedelten etwas weiter flussaufwärts und störten ihre Kreise nicht, es gab reichlich Nahrung in den Wäldern, niemand war bedrängt oder bedroht. Und während Saw das Feuer hütete und Nahrung zubereitete und Mero die Hütte in Stand hielt, und die Kinder Früchte und Nüsse sammelten, und Jess Feuer sammelte, blieb es an Ross, Geir und Lies, zu jagen und Fleisch mit nach Hause zu bringen. Geir hinkte mittlerweile, aber er hatte Erfahrung genug, um immer noch wertvoll zu sein. Oft gingen sie zu zweit, damit einer das Wild aufscheuchen konnte, während es der andere dann mit seinem Speer aufspießte.

Und doch war Ross der Gleichmut abhanden gekommen, wenn er abends am Feuer saß und hineinstarrte. Der Misserfolg in der Knochenbearbeitung nagte an ihm und er erwischte sich bei dem Gedanken, sich plump und unbeholfen zu fühlen angesichts der neuen Menschen. Und was, wenn niemand mehr zu ihnen stieß? Wenn er es sich bedachte, hatten sie schon lange keine Anderen außer den Neuen gesehen. Und außerdem war der Sommer diesmal merkwürdig klamm und kurz gewesen. Vielleicht sollten sie der Sonne entgegen ziehen. Und er wunderte sich darüber, daß er so grübelte. Er hatte sich noch nie Sorgen gemacht, das Leben bot ja immer alles, was notwendig war, und es waren auch keine Sorgen, mehr ein Gefühl der Unruhe, und Lies teilte das auch mit ihm. Aber wie verständigten sie sich darüber? „Angst“ sagte Lies, obwohl sie wußte, das das nicht stimmte. Kein Feind war in der Nähe. „Nein“ fügte sie also hinzu. „Krank nein“ sagte Ross. „Nicht gut“ konstatierte sie, und das war das Genaueste, was sie darüber sagen konnten. „Herz Ruhe nicht“ fiel Ross ein und sie nickte und schmiegte sich an ihn, denn das hat sich seit Jahrhunderttausenden nicht geändert. Wichtiger als der Sex ist die Wärme, die wir uns einander geben und die Versicherung, die darin liegt, einen anderen Körper neben sich zu haben. Sie kuschelten sich in ihre Felle und schliefen ein. Und am nächsten Tag hatte Lies eine Idee. „Wir fangen Neuen“ sagte sie mit wild glänzendem Blick und Ross verstand. Das war nicht klug, denn die Neuen würden sich rächen kommen. Aber er verstand auch, ohne es zu verstehen, daß sie eine Sehnsucht in sich trugen, der sie nachgehen mussten. Also machten sie sich einen Plan.

 

 

6

 

Ich verzichte darauf, die brutalen Einzelheiten dieses Plans nachzuerzählen. Wenn alles mit der Idee beginnt, dann beginnt auch die Gewalt mit der Idee von der Gewalt, und eine Gewalttat, die ich hier kraft meines imaginativen Geistes in ihren Einzelheiten entfalte, führt auch in der realen Welt zu Gewalttaten, als Fortsetzung meiner Idee. Das heißt nicht, daß man als Chronist die Gewalt nicht erwähnen dürfte, das wäre zwecklos und unehrlich, Beschönigen hilft ebenso wenig wie Kleinreden, Verniedlichen, verschweigen. Gewalt ist ein Teil der menschlichen Natur und ihr nicht den entsprechenden Platz in der Chronologie der Ereignisse zukommen zu lassen, ist unredlich. Aber man muß nicht in ihr schwelgen. Und natürlich könnte ich beschreiben, wie sie sich mit ihrer kleinen Horde anschleichen, die junge Fischerin mit ihrem Freund überwältigen (der fliehen kann, weil die Gruppe zufrieden ist mit dem einfacheren Fang des Mädchens) und zu ihrem Protodorf schleppen. Rache fürchtend, ziehen sie sich sogleich weiter zurück, sorgsam das Feuer auf genässten Fellen mitnehmend, aber es nützt nichts, noch bevor sie aus ihr Feinheiten der Kunst der Knochenbearbeitung lernen konnten, haben die wütenden Sapiens sie aufgespürt.

 

Die Rache einer Sapienshorde ist eine üble Geschichte. Es ging ihnen nicht einfach darum, das Mädchen wiederzubekommen. Nein, sie wollten eine Lektion erteilen und Stärke demonstrieren. Die Neandertaler hatten sie gestört, deshalb sollten sie vernichtet werden. Sie schlichen sich also von mehreren Seiten an, und als sie schließlich aus dem Buschwerk hervorbrachen, hatte keiner in dem Kreis eine Chance zu entkommen. Sie wurden alle getötet, bis auf Ross, der unterwegs war, weil er nicht einverstanden war mit der Behandlung ihrer Gefangenen, die nach seiner Vorstellung ein Ehrengast hätte sein sollen, aber mit dieser Vorstellung stand er allein, und als er merkte, dass er nicht helfen konnte, ist er frustriert davongezogen, ein paar Tage allein in der Wildnis zu verbringen. Eine andere Überlebende war die kleine Miss, der einer der Sapiens nicht nachsetzte, weil sie noch klein war. Sie hatten sich zwar verabredet, niemanden am Leben zu lassen (im Gegensatz zu den Neandertalern war ihre Sprache ausgefeilt genug, einen Plan bis in die feineren Einzelheiten durchzusprechen), aber als der junge Mann das kleine Mädchen sah, dass um ihr Leben lief, tat er einfach so, als hätte er nichts gesehen, denn das Töten ist nicht für jeden Sapiens ein Vergnügen. Das Feuer trampelten sie aus, die Habseligkeiten der Neandertaler zerstörten sie, weil sie nichts mit ihnen anfangen konnten, und ihre weitgehend unverletzte Fischerin nahmen sie wieder mit.

 

 

 

7

 

Ross und Miss gingen den Sommertag entlang, immer dem Fluss nach Süden folgend. Ross hatte zwar seine Pfeilspitze dabei, die er mit dem letzten Pech an einen kurzen Eschenstock geklebt hatte, dennoch war damit an Jagen nicht wirklich zu denken. Das war auch nicht notwendig. Überall sprossen die Gräser und Beeren, und während sie so gingen, hatten sie eigentlich immer eine Handvoll irgendwas in der Hand, an dem sie herumknabberten. Die Ähren von Gräsern konnte man den ganzen Tag essen, sie waren leicht zu sammeln, aber schwierig zu kauen, da viele Fasern im Mund verfusselten, aber je länger man kaute, desto breiiger wurde das Gemisch im Mund, und irgendwann schluckte man. Und Gras gab es überall, aber auch Himbeeren und Kirschen, Holunderblüten und Lindensamen gab es jetzt reichlich, und natürlich Wurzeln, die man aus der Erde ziehen konnte. Fleisch im Sommer aß man eigentlich nicht. Im Herbst sammelte man die Nüsse, die Bucheckern, und natürlich die Äpfel, und man lagerte was man konnte, und erst, nachdem die Blätter unten waren, und es kalt wurde, fing man an, die schwachen Tiere zu erlegen, um warmes Blut zu trinken, Fleisch am Feuer zu braten und Knochenmark auszusaugen. Im Frühling dann konnte man Eier klauen, aber vor allem gab es auch jede Menge frische Gräser, die nun einfach eingesammelt werden konnten, Bärlauch, Birkenblätter, Brennesselspitzen. Natürlich, Gelegenheit macht Diebe, würde man auch im Sommer eine leichte Beute nicht ablehnen, man nahm, was sich bot, und davon gab es zunächst einmal reichlich.

Man fragt sich vielleicht, wenn das Nahrungsangebot doch so gut war, warum vermehrten sich die Menschen denn nicht schneller und bevölkerten die Welt, bis die Nahrung wieder knapp wird?

Aber die Menschen vermehren sich nicht so schnell. Die Kindheit ist lange und voller Gefahren, die Geburt ist schwierig und voller Gefahren, und wenn ein Neandertalerpäärchen einige Kinder großgezogen kriegt, stehen dafür andere, denen es nicht glückt. Das menschliche Dasein war schon prekär, allein aus diesem Grund, und dann gibt es natürlich die Rückschläge. Kalte Sommer und harte Winter überstehen die gesunden Erwachsenen, aber nicht die kleinen Kinder, und ein schlechtes Jahr macht zehn gute Jahre zunichte. So gab es nie sehr viele Neandertaler, und mehr als einmal stand die Menschheit vor dem Aussterben, was die Forscher an der geringen genetischen Varianz sehen, die wir Menschen untereinander haben. Aber solche Fragen kümmerten Ross natürlich nicht. Er sah, daß sie vom Sapiens verdrängt wurden, aber das seine Rasse verloren war, das sah er nicht. Wie es ja überhaupt so ist, auch heute wieder, das all die Katastrophen die passieren und passieren werden, immer nur die Anderen treffen, und nie einem selber in seinem bequemen Leben, und sollte es eines Tages doch mal anders kommen, muß man dann damit umgehen. Deshalb sind wir ja so merkwürdig unfähig, auf die Umweltprobleme zu reagieren, die wir uns mit unserem Lebensstil geschaffen haben. Es könnte ja einfach sein, zu sagen, okay, wir brauchen die Insekten für das ökologische Gleichgewicht, also dürfen wir keine Ackergifte mehr benutzen. Es ist ja nicht so, daß wir uns gerade so eben ernähren können, und eine halbe Ernte die halbe Bevölkerung umbringen würde. Nein, uns geht es gut, wir sehen das Problem, wir könnten es lösen, aber wir tun es nicht. Warum? Weil die Katastrophe immer nur die Anderen trifft, deshalb meinen wir, wir brauchen nicht zu reagieren, bis die Katastrophe tatsächlich vor uns steht. Das es dann zu spät sein könnte, für diese Einsicht reicht unsere Analysefähigkeit schlichtweg nicht aus. Insofern ist es zwar schon richtig, das wir uns denkende Menschen nennen, weil wir denken ja, aber ein das Denken denkender Mensch, ein zu effektiver Selbstreflexion und vernünftiger Planung fähiges Wesen sind wir nicht, ebenso wenig wie der Neandertaler, der wohl vor sich hin dachte und auch sprach, und auf Muscheln blies und Flöten baute und seine Toten begrub, aber nicht planend und formend in seine Welt eingriff, um sich behaglicher in ihr einzurichten.

 

 

8

 

Ross streifte mit der jungen Miss durch die Wälder, auf der Suche nach einer Gruppe, der sie sich anschließen konnten. Solange es noch Sommer war, hatten sie kein echtes Problem ohne Feuer, sie hatten ihre Felle und in der Nacht wärmten sie sich aneinander, aber der Winter würde hart werden. Deshalb zog Ross den Fluss hinauf, immer nach Süden, wo, wie er wusste, mehr Menschen waren, Neandertaler, Neue, das war ihm gleich, irgendwann musste er welche finden. Miss war mit ihren vielleicht zehn Sommern zum Glück nicht mehr ganz klein und fast schon selbständig. Sie sammelte Beeren, Pilze und Nüsse, während sich Ross auf die Lauer legte, um einem Kaninchen nachzustellen, dessen Blut sie roh tranken. Er versuchte gar nicht erst, ein Feuer zu machen, denn selbst wenn er es geschafft hätte, sie würden das Feuer zu zweit nicht lange unterhalten können. Sie mussten Andere finden. Und als sie eines Tages in der Ferne Rauch aufsteigen sahen, hielten sie darauf zu. Ross hoffte, Neandertaler zu finden, denn dann wäre es einfach gewesen. Sie wären wahrscheinlich willkommen, wenn sie sich nur geschickt anstellten. Mit den Neuen war es ganz anders. Ross wusste, dass sie sich dumm verhalten hatten, daß sie die Neuen nie hätten so provozieren dürfen, und die Gewalt, mit der sie das arme Sapiensmädchen konfrontiert hatten, war ihm zuwider gewesen. Es hätte einen anderen Weg geben müssen.

Sie kamen langsam voran, weil Miss mit ihren kurzen Schritten nicht lange ging, aber sie kamen voran, und eines Tages hatten sie das Feuer erreicht. In Sichtweite lagerten sie davor, und sie brauchten nicht lange warten, um zu sehen, daß es Neue waren. Enttäuscht wandten sie sich ab. Bei den Neuen brauchten sie nicht um Aufnahme bitten. Sie würden eh verjagt werden. Sie hatten diesen Menschen nichts zu bieten. Aber jetzt wurden die Tage schon kürzer, die Nächte hatten eine drohende Kühle bekommen, und einen Winter alleine im Wald würden sie möglicherweise nicht überleben. Also zogen sie weiter, einen Seitenfluss hinauf, und gerade zu der Zeit, in der Morgens der Tau sich wie Spinnweben über die Welt breitet und die Sehnsucht nach dem Feuer groß wird, entdeckten sie in der Ferne die rettenden Spuren ihrer Art. Sie mussten keinen Winter alleine verbringen.

Dabei war es so einfach nicht. Die Anderen waren misstrauisch, ihre Horde groß genug, vielleicht schon zu groß, um noch zwei zusätzliche Mäuler gebrauchen zu können. Die ersten Tage wurden sie des Nachts am Feuer geduldet, aber am Morgen weggeschickt, und Ross wusste, daß er gutes Jagdglück brauchte, um zu zeigen, daß er wertvoll war. Aber er kannte die Gegend nicht, und hatte Mühe, die rechten Plätze aufzuspüren, und als er abends mit seinem Kaninchen ankam, konnte er damit nicht wirklich von sich überzeugen. Miss machte sich besser. Sie hatte den ganzen Tag Bucheckern gesammelt, von denen jeder gerne nahm. Ross hatte aber noch einen Trumpf, den er jetzt ausspielte. Seine Steinspitze hatte er an einen Stock geklebt und mit Flechtwerk überzogen, und es war sein Glück gewesen, daß diese Konstruktion im Sommer gehalten hatte, denn er als er das herumzeigte, weckte er die Neugier der Anderen. Am nächsten Tag sammelte er Birkenrinde und Feuerholz, und in der Nacht begann er mit seinem Werk, mißtrauisch, aber auch neugierig beäugt. Das Prinzip kannten sie auch, aber keiner konnte es so gut wie Ross, und als zwei Tage später das Pech fertig war, war auch seine Aufnahme in die Gruppe besiegelt. Der Winter konnte kommen.

 

 

 

9

 

Ross blieb trotzdem unruhig. Wirklich wohl fühlte er sich in der neuen Gruppe nicht, die zu groß war für seinen Geschmack, in der die Männer zuviel das Sagen hatten, in der sich oft gestritten und geprügelt wurde. Nichtmal eine Freundin konnte er für sich gewinnen, und bald versuchte er es nicht mehr. Stattdessen begab er sich auf weite Streifzüge in die Umgebung, sowie das Wetter es irgendwie zuließ, und machte sich bekannt mit dem System der Täler und Berge hier. Es war bergiger hier als er es kannte, das machte das Laufen weiter Strecken oft anstrengend, aber das machte ihm nichts aus.

Miss hatte sich dagegen gut eingelebt, sie hatte sich mit anderen Kindern zusammengetan und blühte in einer Weise auf, die er in alten Zeiten nicht für möglich gehalten hätte. Sie blieb fast seine einzige Freundin in der Gruppe, und manchmal saßen sie am Feuer und redeten über das, was Neandertaler so redeten. „Traurigkeit“ war Ross Lieblingswort zu der Zeit, obwohl er wusste, daß es nicht so ganz stimmte, und dann erfand er einfach eines: „Sehnsucht“. Und er erklärte es mit der Hand auf dem Herz, mit dem Blick in die Ferne, mit dem Feuer, mit einem Atem, und Miss verstand ihn, wenn sie auch das Gefühl nicht teilte. Sie war froh, angekommen zu sein.

Aber Ross trieb seine Sehnsucht hin zu immer weiteren Wanderungen. Im Frühjahr nahm er seine Sachen und zog einfach in die Wildnis hinein, es hielt ihn nichts an der Gruppe. Und nach ein paar Tagen Wanderung kam er, es war durchaus kein Zufall, daß seine Schritte ihn hierher geführt hatten, zu der Siedlung der Sapiens, die ein weites Dorf dort angelegt hatten, wo die beiden Flüsse sich trafen. Dorf, das hieß, das zehn Hütten in losem Zusammenhang in den Boden gebaut worden waren, aber Ross hatte noch nie eine Siedlung gesehen mit mehr als einer solchen Hütte. Es erschien ihm unsinnig, gleich mehrere Gemeinschaftshütten zu bauen, aber als er darüber nachdachte, fand er auch, daß es sehr bequem sein musste, wenn man sich von der Gruppe etwas separieren konnte und trotzdem zusammen mit anderen sein konnte. Nur, wer hatte dann das Sagen in dieser Gruppe? Das konnte sich Ross nicht vorstellen. Allerdings merkte er auch schnell, daß nicht nur er das Dorf beobachtete, sondern die Bewohner auch ihn.

 

Der beobachtete Beobachter beobachtet, wie er beim Beobachten beobachtet wird. Der Beobachtete beobachtet den Beobachter. Sie beobachten sich. Natürlich zieht Ross sich zurück, merkt , das er beim Beobachten beobachtet wird, immerhin ist er ängstlich und scheu, aber nicht so ängstlich, das er nicht innehält, wenn keine bedrohliche Verfolgung aufgenommen wird. Und den Neuen ist es müßig, einzelne Neandertaler aus ihrer Nähe zu vertreiben. Auch sie begnügen sich damit, zu beobachten.

 

 

10

 

Aber unter den Menschen ist eine, die ist etwas anders. Auch sie hat viel und lange und gern ins Feuer geguckt, aber Moha hat eine Leidenschaft für sich entdeckt: Sie bewegt sich gerne. Sie streckt ihre Glieder dem Himmel entgegen, sie beugt sich zur Erde, sie windet sich wie eine Schlange, schleicht auf allen Vieren wie eine Katze und geht sogar auf Händen. Aber weil das nicht so gut ankommt bei den anderen Menschen , zieht sie sich oft in den Wald zurück, wo sie eine Lichtung für sich gefunden hat, auf der sie übt. Oft sitzt sie einfach nur da, und döst vor sich hin. Die Menschen hatten viel Zeit damals, es gab nicht viel zu tun, und lange Stunden des Nichtstuns füllten die Tage. Und so saß Moha da und beobachtete die Welt um sich herum, und angelegentlich fing sie an, Tiere nachzumachen oder sich frei vor sich hin zu bewegen, zu tanzen, wie sie es bei sich nannte, obwohl das Wort damals noch keine Bedeutung hatte. Und als Ross sie einmal hierbei beobachtete, geschah etwas in dem jungen Neandertaler, was er selbst nicht verstehen konnte: Er verliebte sich in die Bewegungen der Neuen.

Das war keine Liebe der chemischen Attraktion, es war mehr wie eine Offenbarung der Schönheit, er begriff, dass es Schönheit um ihn herum gab, und das diese Frau die Schönheit nahm und ihr Ausdruck verlieh. Ross rannen lautlose Tränen über die Wangen, während er die Augen nicht von Moha wenden konnte, die ganz in sich versunken den Bewegungen ihres eigenen Körpers folgte, Kreis an Kreis setzte, ineinander verwebte, in Wandlung setzte, um immer wieder zu ihrer Mitte zurückzufinden, in deren Schoß die Schönheit ruhte. Und gerade, als sie die Hände in einer letzten Bewegung zum Bauch zurückführte, sah Ross, wie Moha das glitzernde Augenpaar im Buschwerk entdeckte, das feuchte Auge des Beobachters, und die beiden sahen sich lange an, und keiner sagte etwas oder bewegte sich, um diesen Zauber nicht zu stören. Schließlich hielt es Ross nicht länger aus, er drehte sich um und lief zurück, den Weg, den er gekommen war.

Zwei Tage später, er kannte den Weg jetzt so gut, daß es schneller ging, saß er wieder am Feuer mit Miss und versuchte ihr zu erklären, was er gesehen hatte, sie aber sah ihn nur verständnislos an und konnte oder wollte nicht begreifen, was Ross so bewegte, vielleicht auch, weil sie merkte, das Ross drohte, merkwürdig zu werden und sie ihn darin nicht ermutigen wollte.

Aber Ross lief wieder los, nachdem er sich eine Nacht am Feuer ausgeruht hatte, und einige Tage später hatte er wieder Glück und sah Moha auf ihrer Lichtung.

 

Für Moha indes hatte sich etwas verändert. Unter den Menschen war nie jemand gewesen, der ihr zugeguckt hätte, oder wenn, dann konnte sie mit ihrem Handlauf eine kurze Aufmerksamkeit wecken, ansonsten interessierte das niemanden, was sie machte, man fürchtete, sie sei nicht ganz richtig im Kopf, aber der Neandertaler, das wusste sie, hatte ihr nicht nur zugeguckt, er hatte etwas begriffen, dass es in diesem Tanz um etwas ging, wenn auch um nichts, was sich in Worten hätte ausdrücken lassen. Moha war nicht mehr alleine. Aber gerade das war auch das Problem. Hatte sie gestern noch für sich getanzt, versunken in ihre eigene Bewegung, tanzte sie nun für einen Beobachter, ob Ross nun gerade da war oder nicht, und die Anwesenheit dieses Beobachters führte zu einer ständigen Bewertung der Bewegungen. War dieser Kreis gelungen, setzte hier der Fuß nicht etwas plump auf, war diese katzengleiche Bewegung wirklich katzengleich oder nicht nur eine Vorstellung davon, wie eine Katze ist, auch wenn sie es nicht ist? Sie hatte die Selbstverständlichkeit verloren, und mit der Selbstverständlichkeit die Einfachheit, und mit der Einfachheit die Schönheit, und mit der Schönheit alles, um das es ihr jemals gegangen war. Während sie gestern noch tanzen konnte, konnte sie heute nur so tun, als ob sie tanzte, und alles, weil es einen Beobachter gab, der nichts weiter tat als zu beobachten. Für einen Moment hasste Moha den Neandertaler, aber dann besann sie sich und fing an zu tun, was sie zu tun hatte. Sie versuchte, nicht daran zu denken, daß sie beobachtet wurde, und gerade, als sie wieder das Gefühl bekam, das ihr das gelingen könnte, gerade da sah sie wieder das Augenpaar zwischen den Blätter durchblitzen.

 

Sie sah zurück. Ohne den Blick abzuwenden fing sie wieder an, sich zu bewegen, und, ohne sich dafür entschieden zu haben, begann sie, sich dem Augenpaar zu nähern. Ross seinerseits dachte nun nicht mehr daran, wegzulaufen. Sie hatte ihn gesehen, und sie tat das für ihn. Ihre Bewegungen warteten darauf, von seinen Augen verschlungen zu werden, und das war, was er tat. Aber als sie ihm zu nahe kam, lief er doch, nicht weg, aber hin zum nächsten Baum, hinter dem er sich verstecken konnte, denn er verstand nicht, was vor sich ging. Es war anders als alles, was er jemals erlebt hatte. Sie, einer Eingebung folgend, kopierte seine Bewegung, den kraftvollen Absprung, die zwei laufenden Schritte, den kauernden Sprung hinter den Baum, den Blick an der Seite vom Stamm vorbei. Und eine Erkenntnis traf sie wie ein Schlag: Der Wilde, denn das war er, und so nannten sie die alten Menschen bei sich in der Gruppe, die Wilden, die nicht richtig sprechen konnten, die sich stets versteckten und nicht handelten, diese Wilden konnten sich in einer Weise bewegen, die sie nicht kannte. Dieser kleine Lauf von Baum zu Baum offenbarte ihr eine natürliche Einheit mit der Umgebung, die sie längst verloren hatte. Jede Entwicklung geht auf Kosten etwas Anderen. Ihr gerader Wuchs, ihre aufrechte und stolze Haltung , ihr herrisches Selbstverständnis in der Welt hatte schon, noch bevor von Zivilisation überhaupt zu sprechen war, zu ersten Rückentwicklungen geführt. Die Außenwirkung war für die Sapiens mehr als nur die Behauptung des Rangs in der Gruppe. Es galt, ein Bild von sich selber zu entwickeln, eine Unberührbarkeit zu zeigen, ein Selbstverständnis, das signalisierte, man hatte etwas zu sagen, man war wichtig. Und das hatte seinen Preis: Die Zeit der unbedachten Schritte war vorbei. Die Zeit der natürlichen Bewegung war vorbei. Der Mensch emanzipierte sich von der Natur und begann, die Natur in sich zu verlieren. Sicherlich, im Vergleich zu uns heutigen Menschen bewegte sich Moha mit einer Natürlichkeit, von der wir nicht zu träumen wagen, wir gebeugten, gedrillten, gebrochenen Menschen, gewohnt zu gehorchen und zu funktionieren, ohne Schlange im Rückgrat, mit Füßen zu weich für den Boden, mit Fehlstellungen an allen Gliedern und in allen Muskeln, und auch wenn wir uns jahrelang in einer Kampfkunst üben, können wir doch nie uns diese Natürlichkeit wieder zurückerobern, über die jedes Tier als Gottesgeschenk mit Selbstverständlichkeit verfügt.

 

Romantische Sichtweisen auf den Menschen reden von einer Zeit, in der der Mensch in Einklang mit der Natur gelebt hat, dem Lauf der Jahreszeiten folgend, den Wirren des Schicksals sich anzupassen gezwungen, den Nutzen der Pflanzen kennend, die kranken Tiere jagend, damit die Herde gesund bleibe. Aber dieser Mensch, das war nicht der Sapiens, das war der Neandertaler, der noch nicht mit falschen Worten sich falsche Vorstellungen machen konnte von einer Welt, die es nur in seiner Vorstellung gab. Man braucht die Sprache, um sich so gründlich zu irren, wie wir modernen Menschen es tun, und wahrscheinlich ist es der Preis der Sprache, der Wahrheit, der natürlichen und einfachen Natur, nicht mehr folgen zu können. Die Sprache schafft Eigenwelten, aus Eigenwelten entstehen Lügen und Gespinste, und nichts ist mehr, wie es war. Die großen Augen des Kindes, in denen die tiefe Weisheit ihrer Vorleben liegt, der tiefe Blick der Seele des Kindes, wird durch die Sprache zerstört und übrig bleibt ein Wesen, von sich selbst überzeugt, gefangen in seinem Egoismus, neidisch und missgünstig, stets dem eigenen Vorteil am nächsten stehend, taktisch handelnd, klug und listig. Jenseits der Wahrheit stehend. Das ist der Preis der Zivilisation, und die Zivilisation beginnt mit der abstrakten Sprache.

Ross hatte ja auch geredet. Aber er konnte nur das bezeichnen, was tatsächlich war. Namen, Dinge, Gefühle, Kommandos, Tätigkeiten vielleicht, in Verbindung mit einer regen Zeichensprache. Worte, keine Sätze. Kurzsätze aus einem Atemzug in Verbindung mit dem augenscheinlich Mitgemeinten.

Er konnte sich nicht vorstellen, was die Menschen miteinander zu reden haben sollten, worüber sie argumentierten, obwohl er im Feuer wohl schon so etwas als Ahnung gesehen haben muss. Eine Sprache, die die Träume wahr werden lässt. Und ihnen die Wahrheit opfert.

Das alles sah Moha in der Bewegung von Ross, und von diesem Moment an, begann sie, seine Bewegungen zu studieren. Und so wartete sie darauf, daß er sich bewegte, um sich dann mit ihm zu bewegen. Und Ross, der begriff, was sie tat, begann, ihre Bewegungen zu kopieren und nachzumachen, obwohl er den Sinn ihrer Bewegungen nicht verstand.

 

 

11

 

Es gibt mehrere Kandidaten für den Zeitpunkt, an dem die Menschen, und damit sind dann einfach die Sapiens gemeint, nicht mehr ihrer Natur folgten, sondern ihren selbstgemachten Regeln. Anthropologen berichten voll Bewunderung von ihren Forschungen bei den letzten urtümlichen Stämmen der Menschen in den Urwäldern Afrikas oder Amazoniens. Gesellschaften ohne Angst, ohne Vergangenheit und Zukunft, im Rhythmus mit der sie umgebenden Natur. Ist das der paradiesische Urzustand des Menschen? Ein Leben jenseits der albernen Konzepte von Schuld und Pflicht, von Bestimmung und Verantwortung, ein Leben nur für das Leben, ein la vie pour la vie. Das ist es jedenfalls, wonach wir uns sehnen, wenn wir der Komplexität unserer Gesellschaft überdrüssig sind und unsere Ruhe haben wollen. Aber wir sind schon lange aus dem Paradies vertrieben, was immer es war, das uns die Selbstverständlichkeit des Lebens genommen hat. War es wirklich die Sprache, die Lüge möglich machte und Eigenwelten, Traumwelten ins Leben rief, mit ihren eigenen Gesetzen, denen wir folgen? Oder war es erst die Nadel, die Kleidung, die soziale Unterschiede symbolisch sichtbar machen konnte? Oder war es die Landwirtschaft, das planende Leben des Bauern, der nicht mehr flexibel genug ist, sich den Launen des Wetters und der Winde bedingungslos anzupassen, weil er seine Scholle behüten muss? Kamen mit der Landwirtschaft die Götter, mit der Abhängigkeit vom Wetter der Glaube an das Schicksal, mit dem Glauben an das Schicksal die Abkehr von der unmittelbaren Reaktion auf das Leben, die Ergebenheit in die Umstände, statt der Flexibilität des täglich neuen Improvisierens? Oder waren erst die Städte der Urgrund des Übels, zu viele Menschen auf zu engem Raum, die sich organisieren mussten. Ist Freiheit in den Städten nicht möglich, weil der Platz fehlt, sich zu entfalten? Oder sind es die Herrschaftstrukturen, die die Städte zusammenhielten? Das System von Strafe für Abweichung und Belohnung für Folgsamkeit? Oder war alles noch gut, solange nicht die bronzenen Waffen kamen, und dem Reichtum die physische Gewalt beigaben? Waren die Menschen noch paradiesisch frei, bevor die Indogermanen kamen und sie unterjochten? Oder wurden sie erst mit der Schrift abhängig, mit dem Nachweis von Zahlen und Besitzverhältnissen, mit der Festschreibung eines Moments, der Gültigkeit besaß für alle Zeiten? Oder war nicht eigentlich die Schrift das Problem, sondern die Religionen, die aus ihr erwuchsen? Die auserwählten Völker, oder die Idee des Rechts, und damit des Rechts auf Grund und Boden, auf Besitz, auf Herrschaft? Aber vielleicht waren die meisten Menschen auch hier immer noch frei, denn die Macht der Könige reichte nicht in die entlegenen Täler, wo Menschen ihren Lebensunterhalt wie seit jeher bestritten, die Schafe und Ziegen über die Hügel schickten, die Bäume ernteten, etwas Hirse am Fluss anbauten, und nur die ehrgeizigen Jungen gingen in die Städte, um in den Armeen der Könige etwas Besseres aus sich zu machen, einen Teil von der Macht abzukriegen.

Aber hier liegt das eigentliche Geheimnis verborgen, denn der Mensch hätte sich nie von sich selber entfernt, hätte er nicht die Sehnsucht verspürt, das zu tun. Der Mensch will immer noch mehr, und wir können ihn nur verstehen, wenn wir zurückgehen zum Anfang.

 

Moha hatte, so habe ich es erzählt, getanzt, und sie hatte ihren Neandertaler kennengelernt und später zwei Mischlingskinder geboren, die sie in ihrer eigenen gemischtrassigen Gemeinschaft aufwachsen ließ. Das ist natürlich romantische Folklore, aber irgendwie jedenfalls ist es passiert, und viel entscheidender als die pikanten Details der Fortpflanzung ist der andere Teil der Geschichte: Woher kommt der Tanz, woher Musik, woher Schmuck und Malerei? Welcher Geist trieb den Menschen dazu, denn alles andere ist eine Folge von dem.

 

Noch lange vor unserer Geschichte hatten die Menschen schon damit begonnen, Muscheln zu Ketten zusammenzustecken und die Frauen zu schmücken. Und vielleicht ist es das: Die Eitelkeit einer Frau, das gewitzte Imponiergehabe eines Männchens, eine zündende Idee, aus dem Feuer geboren, die zu einer offenkundig sinnfreien Handlung erwächst, die einem anderen Zweck dient als einer handfesten Nützlichkeit im Überleben.

 

 

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Nordeuropa, das ist der Raum nördlich der Gebirge, Pyrenäen, Alpen, Karpaten. In den deutschen Steppen jagen die Rentierjäger, in französischen Höhlen treffen sich Menschen zu Ritualen, das Leben ist mal leicht, mal schwer. Die Rentierjagd ist nicht zuverlässig, bald sind die Herden kleiner, und es bleibt nur das schwierige Geschäft des Fischens. Die Menschen, die jetzt hier leben, haben einen Namen: Man nennt sie Cro Magnon Menschen, nach der französischen Höhle, in der ihre Malereien entdeckt wurden. Aber die Bezeichnung erklärt wenig, es sind europäische Sapiensgruppen, sogenannte Jäger und Sammler, und ob sie in paradiesischen Zuständen gelebt haben, konkurrenzlos in reicher Wildnis, oder Hunger und Kälte leiden mussten und kaum überleben konnten, das bleibt unserer Phantasie überlassen. Wir reden über einen Zeitraum von zweieinhalb Jahrzehntausenden, von 45000 bt (bt before time, also vor Jetzt), wo Cro Magnons anfingen, den Neandertaler zu verdrängen, bis 20000 bt, als das Eiszeitmaximum ihren Lebensraum weitgehend unbewohnbar machte, und eine neue revolutionäre Erfindung, die Nadel, ein neues Zeitalter einleitete. In diesen knapp drei Jahrzehntausenden also lebte der Cro Magnon Mensch in Europa, und in ihm sehen wir erstmals ein menschliches Wesen, das klar und erkennbar Kunst und Kultur hervorbrachte. Malerei und Musik wurden vielleicht nicht von ihnen erfunden, nicht allein, nicht zuerst, aber von ihnen wissen wir, das sie malten und das sie musizierten, und wie auch immer man das bezeichnen mag, die Cro Magnon Menschen besaßen eine Kultur, sie besaßen eine Zivilisation, und damit können wir sagen, sie waren wie wir. Ein Cro Magnon Mensch könnte sich in der modernen Welt zurechtfinden, wahrscheinlich besser noch, als wir uns in seiner Welt, denn, vielleicht war er auch der wohl klügste Mensch der Menschheitsgeschichte, vielleicht abgesehen von den ihm nachfolgenden Magdaleniern, bevor mit der Landwirtschaft die Degeneration des Menschen und seine kulturelle Entfaltung begann.

 

Wenn wir also von Cro Magnon Menschen reden und dabei die Vorstellung von halb wilden Menschen, die in nomadischer Lebensweise vegetieren und mit purer Kraft und Zähigkeit das Überleben einer feindlichen Umwelt abtrotzen, pflegen, dann werden wir der Sache nicht gerecht. Es ist wohl viel naheliegender, hierhin das Zeitalter der Götter und Helden zu legen. Es ist dies das Zeitalter der freien Menschen, die im stolzen Selbstbewusstsein die ersten Mythen und Erzählungen begründeten. Männer, die Bäume ausreißen konnten, die loszogen, um riesige Monstertiere zu erlegen, die unter Einsatz ihres Lebens ihre Frauen und Kinder verteidigten, Frauen, die alles wussten, was es auf der Erde zu wissen gab, die die Heilkraft der Pflanzen nutzten, die den Weg der Gestirne beobachteten und die Zyklen der Jahreszeiten und Mondphasen nutzten, freie Menschen, die aus Worten Wirklichkeiten schufen, und die niemanden untertan waren.

 

Und einer dieser Menschen, ein Ahne, ein Held, war der junge Worme. Natürlich war er kein typischer Junge des Stammes, sondern ein besonderer, mit dieser besonderen Neigung. Wenn wir den Menschen Kulturfähigkeit zusprechen, Neugier, Wissbegierde, Innovationsdrang und Phantasie, dann reden wir ja eigentlich immer nur von einer kleinen Minderheit, die inmitten der großen Mehrheit der selbstzufriedenen Genussmenschen und eigentlich immer verachtet von dieser Mehrheit, ihre kleinen Freiräume behaupten und aus ihnen das schaffen, was wir dann später Kultur nennen. Auf jeden Träumer kommen zehn Menschen, die nichts weiter wollen, als den Magen zu füllen, Sex zu haben und in einer annehmbaren materiellen Situation zu leben. Wir tun so, als sei es die Menschheit, die ihre Zivilisation geschaffen hat, aber eigentlich waren es immer die Außenseiter, die die Zivilisation der plumpen Ignoranz der Mehrheit abgetrotzt haben. Und von denen sprechen wir.

 

 

 

13

 

Es gibt auch eine Flöte der Neandertaler, Rumänien, 55000 Jahre vor unserer Zeit.

Ein Oberschenkelknochen mit sorgfältig ausgeschliffenen Grifflöchern, drei saubere und klare Töne, einfach, aber deutlich. Und wer Musik machen kann, wer auf die Idee kommt, sich musikalisch zu betätigen und ein Instrument aus Knochen zu schnitzen, das ist ein im modernen Sinne denkender Mensch, jemand, der in seiner Umwelt nicht nur überlebt, sondern diese kreativ formt und im weitesten Sinne zivilisatorisch tätig ist. Denkend. Die Bezeichnung Homo Sapiens ist also, jedenfalls als Abgrenzungskriterium zum Neandertaler, falsch. Auch der Neandertaler war ein Homo Sapiens, und zur Unterscheidung der Rassen muss ein anderer Begriff gefunden werden. Besonders findige Wissenschaftler haben ja sogar schon den Begriff Homo Sapiens Sapiens geprägt, ein Begriff, der aber nichts anderes ist als eine intellektuelle Bankrotterklärung. Der Mensch, der nicht nur denkt, sondern auch denkt. Der das Denken denkende Mensch. Die Erfindung dieses Begriffs zeigt vor allem eines ganz deutlich: Wir haben keine Ahnung, und die Theorien, die wir uns zurechtlegen, mögen bis zu einem gewissen Grad plausibel erscheinen, aber sie sind nichts weiter als Konstrukte, die unser elementares Unwissen verschleiern.

 

So ist der Weg ja denkbar, den ich hier skizziert habe, vom Affen über den Menschenaffen zum Vormenschen, zum Menschen, die materialistische These sozusagen, die in meiner Lesart eingeschränkt ist durch die teleologische Bedingung, das heißt, dass die Entwicklung ohne eine innewohnende Idee nicht denkbar ist. Gleichwohl ist, auch unter dieser Bedingung, die Entwicklung immer noch materiell gedacht. Aus dem Niederen entsteht das Höhere. Diese Grundannahme könnte aber auch falsch sein. Denn sie ist immer noch dem materialistischen Denken verhaftet. Es gibt auch andere Möglichkeiten:

Fangen wir an mit Luzifer: Die Geschichte geht so, dass der höchste Engel Gottes, um die Erfahrung der Dualität machen zu können, sich vom Liebesband Gottes abgeschnitten hat und in die Dualität gefallen ist, woraufhin überhaupt erst die materielle Ebene entstand, auf der wir unsere Erfahrungen machen innerhalb der Illusion, von Gott getrennt zu sein.

Die Möglichkeit für eine Seele, auf der Erde zu inkarnieren, ist eine Geschichte des Niedergangs. Innerhalb der grobstofflichen Materie zu leben ist für eine Seele alles andere als leicht. Die Seele muss für diese Erfahrung auf all ihre Weisheit, auf ihre Erinnerungen, ja, auf ihr eigenes Selbst, dass sie im Leben erst mühsam wiederzuentdecken hat, verzichten. In diesem Denken ist es so, das die ersten Menschen überhaupt nicht im materiellen Körper lebten, die ersten Menschen waren feinstoffliche Wesen, nur locker mit der Materie assoziert, und so noch viel näher an der Vollkommenheit ihres Ursprungs. In der Materie gibt es die bittere Erfahrung des Todes, das dunkle Leid, den Hunger, die Gier, die Gewalt. Das alles ist schmerzhaft für eine Seele zu ertragen, aber es war Luzifers Aufgabe, den Menschen, und damit dem Universum, diese Erfahrung zu ermöglichen, und damit auch die Erfahrung der Liebe in der Materie. Und es ist ein sehr langer Weg, ist man erstmal erinnerungslos in der Materie gefangen, das Vertrauen zur Liebe zurückzuerlangen.

 

Die Entwicklung geht also immer in zwei Richtungen: Auf der einen Seite entwickeln wir uns, hin vom Niederen zum Höheren, auf der anderen Seite ist es aber auch genau umgekehrt: Die Geschichte der Menschheit ist eine Geschichte des Niedergangs, startend mit den edlen großen Seelen der Helden und Götter, die sich immer weiter materialisieren und immer mehr von ihrem Ursprung vergessen, bis sie nur noch orientierungs- und willenlos materiellem Hedonismus frönen. Was haben noch unsere Großeltern gewusst, was für uns schon nur noch Legende ist. So bleibt nur der Weg ins Chaos, ins Verderben, in die Ragnarök, in die Nacht der Götter, bis die Erde verbrennt und aus ihrer Asche eine neue Erde entsteht.

 

 

14

 

Wenn wir wissen wollen, was wir wissen, ist es nach allen diesen Betrachtungen unsinnig, eine Objektivierbarkeit dieses Wissens anzunehmen. Das Argument ist immer, mehr als ein Hinweis auf tatsächliche Begebenheiten, ein Hinweis auf die Argumentationskunst des Argumentierenden. Es gibt kein objektives Wissen, es gibt nur subjektive Welten, die miteinander in vielfältiger Weise interagieren. Sowie ich versuche, über uns zu sprechen, über uns Menschen, über die Dinge wie sie sind, über Wahrheit, fange ich an, Behauptungen aufzustellen, Argumente und Beweise zu sammeln, kurz, ich begebe mich ins Machtspiel der Meinungsherrschaft, und damit von vornherein in einen Bereich, in dem die Wahrheit nicht zu finden ist. Will ich wahre Worte sprechen, dann habe ich nur eine Chance: Ich muss von mir sprechen. Von meiner Welt. Ich kann wahrheitsgemäß berichten, was in meiner Welt los ist, welche Gedanken ich habe, welche Schlüsse ich ziehe, welchen Argumenten ich folge, und nur, solange ich bei mir bleibe, kann ich diesen Anspruch behalten.

Spreche ich also von mir. Ausgehend von meinem Schreibtisch, der steht in meinem Haus auf der Wilhelmshöhe, Ortsteil Passentin in Penzlin, in Mecklenburg Vorpommern in Deutschland. Wir schreiben das Jahr 2020 nach Christus Geburt, das heißt, den Hinweis Christus Geburt lassen wir natürlich meistens weg. Es ist der 6.2.2020. Die Chiffre eines Datums, das seine drängende Aktualität mit der Zeit verlieren wird. Was führt mich hier, an diesem Ort, zu der Beschäftigung mit der Geschichte?

Nun, zum Beispiel folgendes: Deutsche denken oft von sich, sie seien Germanen, was aber so nicht stimmt. Ich wohne in Passentin, Penzlin, und der Eingeweihte weiß sofort, daß ich mich auf slawischem Boden befinde. Mecklenburg ist das Land der Obodriten. Noch bis 1918 herrschte das alte slawische Geschlecht als Fürsten über das Land, seit sie im 13. Jahrhundert die deutsche Oberhoheit akzeptieren mussten. Da die slawischen Völker also nicht vertrieben wurden, sondern tributpflichtig gemacht, mithilfe des Burgensystems, daß die Feudalherrschaft durchsetzte, sind diese Westslawen also Teil des später deutsch genannten Gebietes geworden. Vereinfacht gesprochen, hat eine deutsche Oberschicht die slawische Landbevölkerung sich unterjocht, ein System, das bis 1945 weitgehend intakt geblieben ist. Reiche Junker, arme Bauern, das ist die Bevölkerungsgrundstruktur in Mecklenburg, die damit eine ganz andere ist als etwa im benachbarten Schleswig Holstein (Angeln) oder Niedersachen (Sachsen), wo ein stolzes Bürgertum schon sehr früh in Zusammenarbeit mit dem Adel andere Formen der Unterdrückung schuf. Wir sind hier also Deutsche, aber nicht Germanen, sondern eine slawisch-germanische Mischbevölkerung, ebenso wie südlich der Donau und westlich des Rheins ursprünglich keltische Siedlungsgebiete Teil von Deutschland geworden sind, was uns Deutsche zu einem germanisch-slawisch-keltischem Mischvolk macht. Dabei ist nicht zu vergessen, das das keltische wiederum aufzuschlüsseln in keltische und römische Bestandteile wäre, wobei die römischen Einflüsse ja Elemente aller südeuropäischen Völker, insbesondere der Balkanstaaten, beinhalten, und die deutsche Ostsiedlung über das westslawische Gebiet weit hinaus bis in baltische und sogar estnische Gebiete ging, so das in der deutschen Urbevölkerung Einflüsse nahezu aller europäischen Stämme zu finden sind, und zwar nicht nur als Beimischungen, sondern als integrale Bestandteile der, ich darf das mal so sagen, deutschen Seele. Die ist nämlich, die Lage Deutschlands inmitten aller Kreuzwege von Ost nach West und Nord nach Süd macht das praktisch unvermeidbar, von Anfang an kosmopolitisch. Wären wir nicht kosmopolitisch, wären wir keine Deutschen, sondern immer noch Sachsen und Franken und Bayern und Schwaben und Friesen, und die kulturellen Grenzen, die wir heute noch an Elbe, Donau und Rhein feststellen können, wären Sprachgrenzen, in Norddeutschland würden wir eine Art holländisch sprechen, das wir Sächsisch nennen würden, in Ostdeutschland eine Art Sorbisch, in den Mittelgebirgen einen fränkischen Akzent, bis hin zu rätoromanischen Sprachen in Süden.

 

Das Thema Deutschland an sich ist schon völlig überlastet und unmöglich zu thematisieren. Nicht von einem objektiven Standpunkt aus. Es ist klar, das im Epizentrum der Entwicklung eine Draufsicht nicht möglich ist. Wieder kann ich nur von mir sprechen, und ich habe über Deutschland nichts zu sagen. Ich lebe bei Neubrandenburg in Mecklenburg-Vorpommern, bin als geborener Hamburger also Ostaussiedler und bin hier, gewissermaßen stellvertretend für die Schublade, in die man mich aus bestimmten Gründen stecken würde, Teil des jahrhundertelangen Unterdrückungssystems der westlich-germanischen Führungsschicht im versklavten Westslawien. Auch wir Sachsen wurden allerdings erobert, gegen unseren Willen zwangschristianisiert und dem Reiche eines fernen großem Karl einmal einverleibt, der mit Axt und Schwert unsere Donareichen fällte und unseren Stolz, und uns gefügig machte für die Mitwirkung im Reiche der Mächtigen, ob wir wollten oder nicht. Es ist ja nicht so, das man als Einwohner eines Landes gefragt wird, welche Meinung man zu bestimmten Dingen hat. Solange es noch keine Staaten gab außerhalb des einen Römerreichs, nur lockere Stammesverbände, Zweckbündnisse, Fürsten ohne Ambitionen, so lange durfte wohl jeder glauben was er wollte, aber die Staatlichkeit brauchte Schrift, und die Schrift brachten die Christen, und mit ihnen ließen sich die nachrömischen Staaten organisieren. Oder andersherum: Wer erobern wollte, tat gut daran, sich zunächst christlich zu organisieren, denn nur die Christen beherrschten die notwendige Kriegslogistik. Denn das sind die Errungenschaften des Christentums: Staat, Steuern, Krieg, Gemeinwesen. Womit mit Gemeinwesen weniger gemeint ist, dass man sich um alle kümmert, als das man sich darum kümmert, das niemand etwas abweichendes denkt. Und so versammelte man sich Sonntags, um die Instruktionen zu verlesen, wie sich jeder zu verhalten habe.

Ich schreibe das jetzt so auf, als sei das eine Geschichte wert der Empörung, eine Geschichte der Knechtschaft und Geißelung, und in der Tat , das ist sie, aber eine erfolgreiche. Unsere reiche Kultur, insbesondere der letzten fünfhundert Jahre, fußt auf den organisatorischen Vorleistungen der christlichen Kirche, und ob im Guten oder Bösen, ob trotz oder wegen, diese Sprache, in der ich schreibe, ist Teil der christlichen Entwicklung, und diese zu verurteilen hieße somit, sich selber zu entwurzeln, weil was bliebe? Denn abgesehen von der Kirche und den mit ihr verbundenen gesellschaftlichen Entwicklungen, gibt es auch noch die Religion, die Idee des Christentums, und das ist, für viele Menschen hat sie so funktioniert, ein Kanal zur Erfahrung der Existenz Gottes. Ein Gebet an Jesus, an die Jungfrau Maria, ein Vaterunser wie es uns gelehrt wurde, hilft. Es hilft, uns in der Welt zurechtzufinden, denn ein Gebet gibt Ruhe, und aus der Ruhe entsteht die Kraft, die Welt zu formen. Das haben die Christen getan, eben weil sie das Christentum hatten. Ob die Kraft das Gute will und das Böse schafft oder doch umgekehrt spielt wieder mal keine Rolle. Es gibt das Böse nicht, es gibt nur Menschen, die Techniken anwenden und Leid ist nicht das Resultat davon, daß jemand etwas Böses tut, sondern davon, das das Rad des Schicksals erbarmungslos weiterrollt, und wenn man unter die Speiche gerät, dann hat man halt Pech gehabt. Und deshalb betet man, um in der Mitte des Wagens zu bleiben, dort, wo alles schön ruhig ist, dort, wo die Situation, wo die Welt beherrschbar erscheint. Denn Glaube ist vor allem anderen dies: Eine Geistestechnik, die ermöglicht, eine innere Balance zu halten.

Nur: Kann man noch glauben, nachdem man weiß, daß der Sinn des Glaubens das Glauben ist?

 

 

 

15

 

Moha war weder Sachse noch Germane, nicht Slawe oder Kelte. Sie war eine Ureuropäerin, und wir wissen nichts vom gesellschaftlichem Leben dieser Zeit. Ross war einer der einer früheren Entwicklungsepoche angehörigen Neandertaler. Mecklenburg war noch nicht geformt, das Eis war erst noch zu kommen. Die Geschichte spielt nicht in Mecklenburg, sondern am Rhein, am Neandertal, und von dort an südlich das Rheintal entlang. Die Route, auf der Bewegung stattfand. Immer am Fluss entlang, und in die Seitenflüsse hoch, immer auf der Suche nach guten Erden mit reichen Pflanzen und trägem Wild, die trockenen Bergrücken meidend. Am Wasser bleibend. Und wo der Sapiens sich ausbreitet, da zieht sich der Neandertaler zurück. Immer weiter zurück, bis keine mehr von ihnen übrig sind. Die Eiszeit kam noch einmal mit Macht, und in diesen langen Jahrzehntausenden, von 45000 bis 20000 vor unserer Zeit, war Europa ein Land, in dem Menschen leben konnten, ein weites Gebiet mit einer lose zusammenhängenden Bevölkerung, die im Austausch untereinander war. Es ist leicht, in diese Zeit die goldene Zeit des Paradieses hineinzuinterpretieren. Menschliche Behausungen waren nur Inseln in einem Meer unberührter Wildnis, und die Menschen waren frei, sich zu bewegen, wohin sie wollten. Seid fruchtbar und mehret euch war keine krude politische Idee, sondern das Beste, was der Mensch tun konnte. Es gab so viel zu tun. Eine ganze Welt sich untertan zu machen.

 

Moha und Ross waren Menschen, die Flöte spielten, die Tote begruben, die Bilder malten, Menschen also mit unseren Sehnsüchten und Triebmächten.

 

Ihre Sprache können wir heute nicht rekonstruieren. Gar nicht. Vor der Indoeuropäisierung sprachen wir ein mutmaßliches Vaskonisch, das war um 5000 v.Chr, und davor sind wir schon im freien Spekulationsraum und können keinen genaueren Begriff finden als die Eurasische Sprachfamilie, wobei nostratisch auch sehr schön und geheimnisvoll klingt und auf jeden Fall das schönere Wort darstellt. Also haben die Europäer vor zehntausend Jahren eine nostratische Sprachart gesprochen.

Oder andersherum, von vorne: Das Protosapiens, die Sprache, die die ersten Sapiens in Afrika vor 100000 Jahren sprachen, teilte sich auf in die daheimbleibenden Khoisan und Kongo-Saharanisch sprechenden Menschen und den Rest der Welt, die Auswandernden der Nordafrikanisch-Eurasianisch-amerikanischen Sprachgruppen. In Nordafrika verblieb das Kuschitische, dann das Ägyptische, die Berbersprachen, das Semitische, dann spalten sich unter den Auswanderern zunächst die kaukasischen Gruppen gen Norden von den austrischen gen Südosten hin ab, das später noch das Australische und das Amarindische hervorbringt, ebenso wie das Drawidische und Pazifische, wohingegen im Norden neben den kaukasischen auch die nostratischen Sprachen entstehen, die eurasiatischen Sprachen der Altaischen, uralischen , koreanisch japanischen, der Eskimosprachen und Indogermanischen Sprachgruppen.

Für uns Europäer ist interessant, daß das Baskische, und mit ihm die vermutete vaskonische Sprache der Megalithenbauer und das Indogermanische aus zwei Sprachfamilien stammen, die sich schon sehr früh getrennt haben. Es gibt also eine vorindogermanische europäische Urbevölkerung. Aber an dieser Stelle schreiben wir gerade mal 5000 vor Christus, und es ist nach wie vor unklar, was die Menschen davor gesprochen haben.

Es ist zunächst einmal eine Arbeitshypothese, das Moha eine Art protovaskonisch sprach, auch wenn wir damit gut und gerne 35.000 Jahre Sprachentwicklung überspringen, und geflissentlich die Tatsache übersehen, daß noch eine Eiszeit kommen sollte, die Deutschland noch einmal unbewohnbar machen sollte.

 

 

16

 

Es war an einem Frühsommertage des Jahres 38776 v.Chr, da wo der Neckar in den Rhein fließt, ein Stück den Neckar hoch, zwischen Ladenburg und Feidenheim, eine Au am Fluss, eine Biegung mit seichten Gewässern, an dem die Fische gut zu fangen waren, als Moha und Ross zueinander kamen. Sie hatten wochenlang gespielt, sich gegenseitig beobachtet, nachgemacht, und schließlich siegte Neugierde über Scheu, und als sie sich trafen, tanzend, im Fluss der Bewegung, da war es eine heilige Handlung, ein Ritual zu Ehren des Lebens und des Universums, ein Kunstwerk, gemalt in den Himmel. Denn die Liebe ist unvergleichlich. Gäbe es sie nicht, nichts könnte man sich ausdenken, um das zu erklären. Die Liebe ist das Wissen um die Wahrheit des Universums, und wenn zwei Menschen sich treffen, die so zueinander stehen, dann ist es, als sei die ganze Welt einzig und allein für diesen Moment geschaffen, und in gewisser Weise ist das dann auch tatsächlich so. Die Welt besteht nur für den Moment, in dem Liebende sich erkennen. In diesem Moment liegt die Wahrheit und das tiefste Wissen. Und alles, was ein Mensch in seinem Leben tun kann ist, nach diesem Moment zu suchen.

 

Die Beziehung zwischen Moha und Ross indes blieb nicht verborgen. Miss wusste als erste Bescheid, sie lernte Moha auch bald kennen, und einige Tage später brachte sie drei Freunde mit. Die guckten zu oder fingen Fische, und in der kühlen Abendluft kuschelten sie sich zusammen. Auch Sapiens kamen vorbei, die wollten wissen, was Moha macht. Als Moha ihnen erklärte, daß sie sich mit den alten Menschen traf, lachten sie nur und ließen sie allein. Keiner wollte mit denen was zu tun haben, aber Moha war schon immer verrückt, und wenn sie weg war ging sie auch niemanden auf den Geist. Trotzdem war Moha beunruhigt an dem Tag, sie wusste, daß sie in der Wildnis spielen durfte, aber wenn sie ein Feuer unterhalten würden, kämen sie möglicherweise, um sie zu vertreiben. Ross sagte nichts dazu. Sie hatten keine gemeinsame Sprache, sie mussten sich über Gesten verständigen, und das ging eigentlich auch ganz gut. Und jeden Tag kam noch ein anderer Neandertaler dazu, die alte Gruppe war sowieso überfüllt gewesen, es war Sommer, und es bildete sich eine neue Gruppe, denn Ross hatte eine natürliche Autorität, die hier niemand anzweifelte, und von Moha waren die jungen Frauen ganz begeistert. Aber sie konnten nicht an diesem Platz bleiben, zwischen neuen und alten Menschen, und so zogen sie eines Tages los, den Neckar rauf, auf der Suche nach einer schönen Au zum siedeln. Das Land war wild und weit, und nur einige Meilen den Fluss rauf, war schon nichts mehr von den anderen Menschen zu sehen.

 

Miss hatte einen Freund gefunden, Arn, der hatte ein ganz spezielles Hobby. Er machte Vögel nach, und oft genug hatte er so einen gefangen oder Nester entdeckt. Den ganzen Tag machte er Geräusche, pfiff durch die Zähne, summte, sang, unkte, und zu allem Überfluss blies er auf ausgehöhlten Knochen herum, denen er die erstaunlichsten Geräusche entlockte. Und abends, wenn sie sich am Feuer unter ihre Decken zusammenkuschelten, dann blies er manchmal einen Tanz auf dem Knochen, während Ross und Moha tanzten. Miss sang, freie Töne in den Himmel hinein, und die anderen fielen ein. Sie fühlten sich gut, das Leben war einfach, frei und wild.

Interessant ist aber auch noch, das Arn auf die Idee kam, weitere Löcher in den Knochen zu bohren, und die Stimmzunge sauber glatt zu schleifen. Dann konnte er drei Töne auf seiner Flöte spielen. Kraftvolle, durchdringende Töne von wundertiefer Strahlkraft, geblasen im Rhythmus des Lebens selbst.

 

 

17

 

Immer wieder schlägt Ross den einen Stein gegen den anderen Stein, immer wieder, im stetem Rhythmus. Moha steht daneben, mit dem Zunder in den Händen, bereit, einen Funken aufzufangen und lebendig zu erhalten. Und Ross schlägt auf den Stein ein, fling flang fling flang, immer weiter. Sie wissen, daß noch nicht die Zeit für die Funken gekommen ist, auch die anderen wissen das, die drumherum stehen und den Rhythmus aufnehmen. Tshing fling chang dang, fling flang fling fang, tcin dan flin dan. Die Steine in seiner Hand werden immer wärmer, seit den drei Stunden, in denen er nun schon sitzt, und den Stein auf den Stein schlägt. Anfangs hatte sich Ross einfach hingesetzt und angefangen, sie hatten auf diesen trockenen Tag gewartet, und Ross erkannte die Gelegenheit und fing an. Und während er auf den Stein schlug, fing einer der Jungen an, mit dem Fuß auf die Erde zu stampfen, und ein anderer klatschte, und eine Dritte sang, und eine fing an, zu tanzen, so wie sie es bei Moha gesehen hatte, und bald waren alle dabei, bei dieser seltsamen Feueranbetung, und die Tiere im Wald dachten sich, was ist denn bei denen los und verkrochen sich, nur einige Wölfe hofften auf Reste und hielten die Nähe. Und Ross schlug seinen Stein auf den Stein, und er spürte eine plötzliche Müdigkeit. Er hatte die ganze Zeit seinen eigenen Rhythmus gehalten, aber jetzt zollte die Anstrengung ihren Tribut, und er dachte, er könnte seinen Arm nicht für einen Schlag nochmal bewegen, aber gerade, als er in sich zusammenfallen wollte und aufgeben hörte er eine Stimme, Ross, die ihn laut rief, und auf einmal wachte er wie aus einem Traum auf, er sah, was er zu tun hatte und trieb mit einenmal das Tempo in ungeahnte Höhen an. Jetzt musste der Funken kommen, und mit wilder Kraft hub er, plötzlichen langsamer werdend, den Stein in einem Schlag mit bitterer Kraft aus einer letzten Willensanstrengung heraus auf den anderen zu. Und nochmal und nochmal und nochmal und nochmal, und nochmal und nochmal und nochmal und nochmal, Tsching Fling Tseng Tsang Tsang Tsang Tsang, wenn das richtige Wort erklingt, dann springt der Funke. Das Feuer, das im Stein verborgen liegt. Der Stein, das trägste aller Elemente, trägt in sich doch die Kraft, das Feuer zu erwecken. Das Yang im Yin. Mittlerweile sind alle in den Gesang mit eingefallen, der sich in einer dynamischen Wellenbewegung immer höher schaukelt, und mit einem plötzlichen Gedanken dreht Ross den Stein ein wenig zu seinem Herz hin, und er spürt die Verbindung zu dem Herz des Steins, das in sich um das Feuer weiß, und sich danach sehnt, es herzugeben. Und wie aus dem Tanz ein Liebesakt wurde, wurde aus dem Schlagen der Steine die wild funkelnde Sternennacht, die Millionen von Sternen hervorbrachte, und Moha musste nur einen einsammeln, um das Zunder auf ihren Händen zu entflammen, und der Rest war aufmerksame Routine. Alle hielten die Luft an, als Moha eine kurze Flamme in den Händen hielt, die sofort wieder in sich zusammensackte, und Moha hütete das kleine Feuerchen in ihren Händen, das neue Nahrung brauchte, und so hielt sie die Hände über den neuen Zunderhaufen, unter dem die ersten Zweiglein lauerten, die das Feuer dann tragen sollten. Und einen Moment schien es so, als sei die Flamme unten im Holz verloren, lange bange Momente, und Moha lag mit dem Gesicht auf der Erde und pustete die neugeborene Flamme an, die am Ende eines Splitters noch zu hängen schien, und mit einem leisen Lufthauch trieb Moha das Flämmchen hin zu den anderen Splittern, die schon kurz am Feuer gerochen hatten. Auch das Holz hat eine Sehnsucht nach dem Feuer, das es nie kennenlernen darf und das doch eine ganz neue Welt verspricht. Feeh, pfeift sie die Flamme an, feeih, und immer noch nimmt die Flamme das dargebotene nicht, Feeihj, fleht sie, und mit einem plötzlichen Einfall fügt sie dem Feh ein u an, und es ist , als ob das Holz geweckt wurde und versteht, und seine Augen aufschlägt zu der alles vernichtenden Verheißung. Das Feuer lodert auf, alle jubeln. Und seit jenem Tage ruft man mit der Rune Fehu das Feuer an.

 

 

 

18

 

Ross war besinnungslos zusammengesackt. Er bekam nicht mit, wie die anderen um den schwachen Feuerfunken bangten, den er geschlagen, und den Moha aufgefangen hatte. Er war bei den Sternen gewesen und hatte das ganze Universum in seiner Größe geschaut, und er fühlte sich zu schwach und klein, auch nur einen Muskel zu bewegen. Er hörte die anderen feiern und lachen, und dann hörte er auch das Feuer, das nun satt und zufrieden aufloderte und er merkte, wie eine Anspannung von ihm abfiel, die monatelange Ungewissheit, ob sie dieses Feuer würden in Gang bringen können. Man konnte einen Winter ohne Feuer überstehen, wenn man zu zweit oder dritt war und gesund, nicht zu jung und nicht zu alt, aber ihre Gemeinschaft hatte nur mit Feuer eine Chance auf eine gewisse Zukunft, und die konnte jetzt kommen. Ross hatte nicht vorgehabt, eine eigene Gruppe zu gründen, er war es immer zufrieden gewesen, unter einem anderen seine Freiheit zu haben, aber nun war es so gekommen, und er hatte eine Sapiens als Gefährtin und das war das größte Wunder von allen. Er wusste, daß sie sich manchmal einsam fühlte, und das sie nicht so reden konnte, wie sie es gewohnt war. Die Worte der Neandertaler hatte sie recht schnell gelernt, wenn sie auch ganz komisch aus ihrem Mund klangen, zwar richtig, aber dennoch ganz anders, und manchmal lachte einer ihrer jungen Anhänger und erntete dafür bitterböse Blicke und eisige Missachtung, so daß bald niemand mehr zu lachen wagte. Moha wurde verstanden, und wenn auch Ross sowas wie der Anführer der Gruppe war, war doch allen klar, daß die Entscheidungen von Moha gefällt wurden.

 

Sie hatten ein gutes Leben, in der Gegend von der heutigen Stadt Eberbach an der Itter, einem Nebenfluss des Neckars. Aber diese Namen gab es damals noch nicht. Es gab eine hügelige Landschaft mit reichen Wäldern, genug zu jagen und zu sammeln, und den Winter bekamen sie gut herum, begünstigt von einem frühen Frühling und dann der Geburt ihrer Mischlingstochter Jatta, ein munteres, aufgewecktes Kind mit der breiten Stirn des Vaters und den feinen Zügen der Mutter.

 Jatta vereinte die Gesichtszüge von Ross und Moha in ganz erstaunlicher Weise, und alle waren sich einig, noch nie ein solches Kind gesehen zu haben, das noch im Sommer lebhaft wurde und alle mit ihrem Liebreiz bezauberte. Auch andere Kinder wurden geboren, und Ross war froh, daß Miss nicht schwanger war, denn sie war noch nicht ausgewachsen und er fürchtete um sie. Dieser Sommer war nicht so sorgenfrei wie der letzte, wo sie in seltsamer Freiheit das Leben gefeiert hatten, gelacht und gesungen, getanzt und musiziert, denn jetzt gab es Babys, und alles musste genauer organisiert werden. Das Feuer durfte nicht ausgehen, und so waren ständig zwei damit beschäftigt, Feuerholz nachzuholen. Ross hatte sich nicht wieder richtig erholt, er konnte nun nicht mehr gut auf Jagd gehen, deshalb hütete er das Feuer, machte Pech, wenn es Bedarf gab und ging manchmal mit den jüngeren mit, Beeren und Obst zu sammeln. Ihn selber störte seine merkwürdige Schwäche eigentlich nicht, hatte er doch nun viel Zeit, am Feuer über all das nachzugrübeln, was seinem Leben in den letzten zwei Jahren widerfahren war. Und er hörte Moha zu, die mit ihrem Kind sprach, und er versuchte zu begreifen, wie so viele Worte hintereinander zu einem sinnvollen Ganzen zusammengebunden werden konnten. Für ihn war ein Satz aus fünf Worten schon eine Herausforderung. Aber Moha redete mit ihrem Kind, und manchmal, abends redete sie auch mit Ross so, obwohl er kein Wort verstand, und dann schmiegte er sich nur an sie und lauschte ihrem Klang und dachte, das ist der Klang der neuen Welt, denn es gab für ihn keinen Zweifel daran, daß die Neuen, die Sapiens, obwohl er das Wort natürlich nicht kannte, daß die immer weiter vorrücken würden, und sie würden immer weiter in die Wälder verschwinden. Er hatte die Sapiens gesehen, wie sie jagten, wie sie fischten, wie sie sich organisierten, und dagegen konnten sie sich nicht behaupten. Nur war es erst mal noch nicht soweit. Dabei fiel ihm durchaus auch auf, daß Moha ihnen keineswegs überlegen war. Bei den praktischen Arbeiten fehlte ihr oft Kraft und Entschlossenheit, manchmal zögerte sie seltsam und das machte sie langsam, und auch die Pflanzen und Gräser waren ihr seltsam unvertraut, als ob sie nicht wüsste, was sie essen musste bei Bauchschmerzen, bei Fieber, bei Unwohlsein. Manchmal kam es Ross vor, als lebte Moha nur durch einen Schleier und würde die wirkliche Welt gar nicht sehen. Und eines Tages verstand er auch, warum: Als Moha mit Jatta redete und redete und redete, da merkte er, daß sie tatsächlich gar nicht in der Welt war, sondern in der Welt, die sie sich mit ihren Worten schuf. Sie war in der Wortwelt, und damit konnte es ihr egal sein, was um sie herum passierte, und plötzlich hatte Ross eine ganz andere Vision von der Zukunft der Menschen, von Menschenmassen, die keinen Fuß auf der Erde hatten und sich nur in ihren Wortwelten bewegten, als wären sie ganz körperlos, und Ross lief es plötzlich eiskalt den Rücken herunter und er sah zu, daß er aus dieser Vision wieder herauskam. Von Stund an war er ein wenig reservierter, was die wortreichen Monologe von Moha anging, aber er sagte nichts und ließ sich auch nichts anmerken, weil er wußte, wie einsam Moha sein musste, wenn sie niemanden hatte, mit dem sie in ihre Wortwelten gehen konnte.

 

 

19

 

Und so war es ein großes Glück für Moha, als eines Tages im Sommer zwei Sapiensmenschen an ihrer kleinen Siedlung auftauchten.

 

Für Moha waren es sehr schwierige 15 Monate gewesen. Natürlich war auch sie, wie alle Sapiens, davon überzeugt, daß die Wilden aus den Wäldern keine Gesellschaft darstellten. Ross Neugier für ihren Tanz hatte sie auf ihren Schwachpunkt erwischt, und nur dieser Neugier war es zu verdanken, daß sie sich überhaupt auf ihn eingelassen hatte. Aber als er sich auch auf den Tanz einließ, und sie beide zusammen etwas entdeckten, was jenseits jeder Erfahrung war, die Moha kannte oder auch nur sich vorstellen konnte, und als die körperliche Begierde als Resultat ihres Tanzes eine ganz eigene, heilige Dimension bekam, als all dies passierte, gab sie Stück für Stück ihre Idee einer Überlegenheit auf, und fand sich staunend vor einer ganz eigenen Art zu denken wieder, die sie nur wenig verstand, die sie um so mehr faszinierte, und dies war das eigentliche Abenteuer, auf das sie sich eingelassen hatte, zu erlauben zu denken, daß die Neandertaler so zivilisiert waren wie sie selber. Als die ganzen Jungen zu ihrer Gruppe hinzukamen, die ja Moha anhimmelten und in ihr eine Art Verheißung sahen, war es umgekehrt an Moha, in ihrer wilden Lebendigkeit etwas wiederzufinden, was sie unter den Sapiensmenschen schon immer vermisst hatte, ohne es benennen zu können, aber was sie zum Tanz getrieben hatte.

Die Sprache der Neandertaler war einfach. Begriffe, die Dinge bezeichneten, Namen, Gefühle, Handlungen. Aber wenn die Neandertaler ein Gefühl ausdrücken wollten, das jenseits ihrer wenigen Worte lag, dann fingen sie mit einer Art Singsang an, und manchmal ging ein anderer darauf ein, und dann wogten die Gesangslinien umeinander herum, und diese seltsame Musik berührte etwas in Moha, das sie nicht benennen konnte, genausowenig, wie sie hätte sagen können, was die drei Flötentöne von Arn in ihr auslösten. Eine verzweifelte Traurigkeit mit wilder Hoffnung, Todessehnsucht und Lebensfreude.

Aber auch wenn sie viel lachten und tanzten und sangen und kuschelten, Moha sehnte sich so sehr danach, mit jemanden über all das reden zu können. Reden war in der Sprache der Wilden nicht vorgesehen, nicht in dem Sinne, das man über dies und das redet und dabei ganz die Zeit vergisst. Die Neandertaler waren alle im Jetzt. Immer. Und das war manchmal schwer auszuhalten.

Deswegen war sie so froh, als Worme und Mara auf einmal in der Lichtung standen und auf sie zuhielten. Worme und Mara waren ihre Freunde, und sie zweifelte keinen Augenblick daran, daß sie sie gezielt gesucht hatten, was sie auch bestätigten. Unter den Sapiens hatte sich Moha auch immer deplaciert gefühlt, weil niemand ihre Sehnsüchte teilen konnte, aber Worme war ihr menschlich zugetan, seid sie kleine Kinder waren, er hatte sie oft vor dem Spott der anderen beschützt, und seine Freundin, Mara, war auch eine kluge, verständige Frau, mit der sie eine Zeitlang viel zu tun gehabt hatte. „Seid willkommen, ihr beide, ihr seid wirklich höchst willkommen hier“ begrüßte sie sie feierlich, und auch die andern kamen und umringten die Neuankömmlinge, und als klar war, daß es keine Feindschaft gab, wurde getanzt und gefeiert, und Kerr, die älteste Freundin von Miss, warf einige Pilze und Kräuter in die Erdlochsuppe, und eine neue orgiastische Feierlichkeit stand an, alle berauscht, alle hemmungslos, und so wurde gelacht und getanzt und geliebt und gesungen, bis die Morgensonne schon hoch am Himmel stand und die Müdigkeit auch das letzte Pärchen zur Ruhe brachte.

 

 

20

 

Moha genoss es, wieder reden zu können. Alle Erzählungen, die sich in ihr in den letzten 15 Monaten angestaut hatten, brachen jetzt aus ihr heraus, und in allen Einzelheiten schilderte sie das erstaunliche Leben der Neandertaler, wie sie es jetzt so kennengelernt hatte. Dabei vergingen einige Tage, und schließlich begann auch Worme, von seinen geheimen Träumen zu erzählen. „Ich möchte so gerne wissen, wo wir herkommen“ sagte er. „Für die Neandertaler sind wir `die Neuen' , und das heißt doch, das wir nicht schon immer hier waren. Aber wo kommen wir her? Ich bin mit Fenu vor zwei Jahren einmal den großen Fluss heruntergewandert, und der kommt aus Bergen, die so hoch sind, das man sie unmöglich überwinden könne. Und doch siedeln wir hier am Fluß. Von wo mögen wir gekommen sein?“ Mara, die seine Überlegungen schon kannte, fasste die Möglichkeiten zusammen. „Vielleicht gibt es doch einen Weg durch die Berge hindurch, den ihr nicht gefunden habt, vielleicht gibt es aber auch einen Weg um die Berge herum entweder im Westen oder im Osten. „Unsere Vorfahren können von überall her eingewandert sein,“ sagte Moha, das kann man doch überhaupt nicht feststellen“

„Und ob man das feststellen kann“ Jetzt war Worme in seinem Element. „Die Alten erzählen, das jede neue Generation flussabwärts und in die Nebenflüsse siedelt. Und je weiter wir nach Süden kommen, desto mehr von uns gibt es da. Und dort im Süden erzählen die Leute, das sie nach Westen hin aussiedeln. Im Osten sind schwarze hohe Berge, aber im Westen gibt es fruchtbare Ebenen. Wenn wir von dort gekommen wären, dann müssten die Flusstäler dort schon längst besiedelt sein, aber wir entdecken die jetzt erst. Also dachte ich, wir müssten vom Süden gekommen sein, aber über die Berge kommt man nicht rüber, ein Wanderer vielleicht, aber eine Sippe nicht. Also dachte ich, vielleicht führt ein Weg von Osten hierher, und den suche ich.“

„Wie willst du ihn denn finden?“ fragte Moha.

„Ich weiß es nicht! Ich denke einfach, das man den Weg, den unsere Vorfahren gegangen sind, auch zurückverfolgen können müsste. Und irgendwo, hinter den Bergen, sind dann andere Sapiens, von wo aus unsere Vorfahren aufgebrochen sind.“

„Und was willst du dann da?“ fragte Moha.

„Ach, ich weiß es auch nicht so genau. Erzählen, daß wir neue Länder gefunden haben. Stell dir vor, vielleicht suchen die uns, wie wir sie suchen, und sie kennen den Weg aber auch nicht, und wenn es den Weg aber gibt, dann kann man darüber ja auch handeln. Vielleicht haben die etwas, was wir nicht haben und umgekehrt.“

„Ach, du bist ein Träumer“ lachte Moha. Sie fand sich wieder in seiner Leidenschaft, die ihr ähnlich zweckfrei schien wie ihr tanzen, und fast juckte sie es in den Beinen, selber mitzugehen, und zu gucken, ob hinter den Bergen ferne Länder verborgen waren.

 

„Gehst du Worme?“ fragte Ross am Abend. Er wusste, daß Moha die Gesellschaft der Sapiens brauchte, und er war eifersüchtig, hoffte, daß sie bei ihm blieb, und fürchtete doch, daß er ihr nichts zu bieten hatte, außer eines geheimnisvollen Sommers, der schon gewesen war.

„Weißnich“ antwortete sie wahrheitsgemäß. Sie würde ja gerne, aber was sollte dann aus der kleinen Jatta werden? Aber auch Mara zeigte wenig Lust, zu wandern und leistete lieber Moha Gesellschaft.

 

 

 

21

 

Das Neckartal lag an der wichtigen Besiedlungsstrecke zu den Donaugebieten hin. Von der Danube hatte Worme schon gehört, das waren die Geschichten, die sein Interesse als Kind geweckt hatten, vor der lebensspendenden Danube, und immer hieß es, das Leben komme von ihr. Die Menschen waren in langen Generationen die Donau heraufgewandert, jede neue Generation eine neue Strecke besiedelnd, bis sie am Oberlauf der Donau die Wasserscheide querten und in die fruchtbaren Täler vom Neckar und Rhein gelangten.

 

Der Wanderer Worme erreichte in diesem Sommer die Wasserscheide von Neckar und Donau, und er fand einen Fluss, der nach Osten floss. Unbekümmert über den Rückweg folgte er seinem Lauf, bis er an eine erste Menschensiedlung kam. Freundlich winkend kam er ins Dorf, und eingenommen von seinem freundlichen Wesen fanden die Bajuben es leicht, Gastfreundschaft am Feuer zu gewähren. Die Verständigung gestaltete sich dabei äußerst schwierig. Worme verstand kaum ein Wort von dem, was die Bajuben schwätzten, und wenn er sprach, sah er die ratlosen Blicke seiner Gastgeber, die einfach nicht wussten, was gemeint sein könnte. Also verlegte man sich auf Zeichensprache, und so wurde es am Feuer am Abend merkwürdig stumm, weil niemand reden konnte. Worme fand keinen leichten Schlaf in dieser Nacht. Er sorgte sich darum, ob er immer freundliche Aufnahme finden würde in einem Land, dessen Sprache er nicht verstand. Wie würden sich Missverständnisse ausräumen lassen, wie Absprachen treffen?

Und am nächsten Tag fing er an zu lernen; einige Kinder umringten ihn neugierig und er fragte sie nach den Worten für Hand und Nase und Haare und für Feuer und Essen und Holz und Stein. Einiges fand er seinen Worten ähnlich, und er verstand sie schnell, als ob man das gleiche Wort nur anders aussprechen müsse, anderes konnte und wollte er sich nicht merken, so fremdartig klang es. Und auch die Wortstellung war so komisch. Immer das Verb voran, immer auf der ersten Silbe betonend, ein ganz anderer Singsang, der daraus entstand. Und währenddessen zeigte er den Kindern, wie er den Stein behaute und machte sich nützlich, wie es seine Art war, immer mit einer fixen Idee zur Hand. Der Sommer wurde älter, und Worme lockte es noch, weiter den Fluss hinunter zu ziehen. Er war nicht gekommen, um ein Zuhause zu finden, oder irgendwo zu bleiben, er wollte weitergehen und gucken, wohin die Welt führte. Und so kam er an weitere Siedlungen und lernte, das der Fluss Dunau hieß, in einer Ausspreche, die ihn lange zweifeln ließ, ob seine Danube wirklich dieser Fluss war, aber eines Tages hörte er jemanden das Wort sagen, und er könnte schwören, er hätte genau Danube gesagt und von da an zweifelte er nicht mehr. Nicht alle Siedlungen waren im Übrigen geneigt dazu, einem Wanderer Herberge zu bieten, aber wenn er von einem Ort weggejagt wurde, fanden er am Nächsten wieder Leute, die gefallen an seinen merkwürdigen Geschichten mit seiner merkwürdigen Wortwahl fanden. Und als er eines Spätseptembertages eine junge Frau sah, setzte er alles daran, in diesem Dorf den Winter zu verbringen.

Es waren vor allem die Kinder, die seine Geschichten liebten, von wild tanzenden Neandertalern, von den endlosen Ebenen des nördlichen Tieflandes, wo Seeungeheuer hausten und wilde Drachen flogen, und von den süßen Auen seiner Heimat, die er, der Wanderer, schweren Herzens zurückgelassen hatte. Dabei war Worme gar nicht schweren Herzens. Er vermisste Mara, aber war froh, daß sie nicht dabei war, denn so konnte er sich besser integrieren. Und kaum dachte er noch an sie, und die Heimat war nur noch eine romantische Vorstellung aus seinen Liedern, die er in einer Sprache sang, die zuhause niemand verstanden hätte.

 

 

22

 

Worme war dem Lauf des Neckars entlang gelaufen, ausgehend vom Heideberg zum Heiligen Brunnen, wo er eine reine Quelle fand, deren Wasser heilige Kraft zu besitzen schien, hin zu dem Ort bei den fünf Bergen, den man später den Stutengarten nennen würde. Dahinter windet sich der Neckar langsam in so etwas wie Berge hinein. Die grünen Auen werden nun langsam steile Hangrücken. Aber Worme weiß, daß er in die Berge hinein muss. Er muss dem Fluss folgen bis zu seinem Ursprung, um von dort aus zu sehen, was außerhalb dieses Flusses liegt.

Und meistens findet er dann, auf der anderen Seite eines schon recht hohen Berges, einen Fluss, der in eine etwas andere Richtung zu fließen scheint, und dann freut sich Worme, bis er merkt, daß der Fluß doch wieder nur ein weiterer Nebenfluss des Neckars ist und bald wieder in ihn hineinmündet. Woher kam denn das ganze Wasser, dass die Flüsse hinunterfloss? Was lag denn am Ursprung dessen? Aber alles, was er finden konnte, waren Enden von kleineren Abzweigungen am Ende von größeren Abzweigungen. Und in einem schauderhaftem Moment wurde Worme klar, daß nur ein Zufall ihm würde helfen können, den richtigen Übergang zu finden zu dem Fluss, der in ein anderes Meer fließt. Er war schon einmal so weit gekommen, und war dem Lauf des Neckars noch hinter

Esslingen, wo der Fluss schmaler und schneller wird, weiter nach Süden gefolgt, und fand sich auf einmal in einem Gebiet wieder, das auf Beschreibungen passte, die der alte Gure ihm gegeben hatte. Und in der Tat, wenn man hinter Tübingen dem Neckar weiter folgte, gelangte man in die schwarzen Berge von Freudenstadt an der Murg, und so wieder zum Rhein runter. Das war eine schöne, ausführliche Sommerwanderung, die das bekannte Gebiet erweiterte, aber nichts wirklich Neues brachte. Und Gure wusste von vielen Wegen zu erzählen, die vom Neckar zum Rhein führten. „Da gehst du einfach das Tal hoch, dann über dem Berg, und schon bist du wieder am Rhein!“ Gure kicherte. „Der Rhein ist nicht nur im Westen, musst du wissen, er ist auch im Süden. Wir sind eingeschlossen vom Rhein. „Aber dann gibt im Osten einen anderen Fluss.“

„Ja, das mag wohl sein, es soll Flüsse geben, die weiter nach Norden fliessen, parallel zum Rhein, praktisch.“ - „Kennst du jemanden, der mal im Norden gewesen ist?“ „Ich bin im Norden gewesen, Junge“ hatte Gure geantwortet. „Die Flüsse werden flacher und irgendwann ist da so viel Wasser, da kommst du nicht weiter, nur mit Booten. Da ist das Land zu Ende.“ Ein Boot war ein clever genutzter Baumstamm, mit Fleiss zugehauen und mit Wagemut und Übung beherrscht. Gure hatte noch mehr gesehen in einem langen Leben mit zwanzig Sommern, die für freie Wanderungen genutzt werden konnten. Zwanzig Richtungen hatte er bewandert, war an Weser, Seine und Rhone gewesen, und Worme kannte alle seine Erzählungen, denn er war der Junge, der im Winter gerne gelauscht hat, wenn Gure erzählte, wo er gewesen war. Ganz okay fanden die anderen das nicht immer, das sich einer im Sommer auf die Socken macht, und im Winter wieder am Feuer sitzen will, und deshalb erfand Gure die Geschichte von den Drachen, die sich an geheimen Plätzen versteckt hielten, und das man immer wissen müsse, wenn ein Drache wach würde. Die Anderen verstanden das eh nicht. Es wäre auch sinnlos für sie gewesen, woanders hinzuwandern, denn für ihre Augen hätte es überall gleich ausgesehen. Wald und Wasser und Wild und Pflanzen und Steine und Feuer. Das gab es überall. Aber das der Gesang des Flusses an jeder Stelle ein anderer ist, das ist ein Geheimnis, mit dem nur wenige Menschen etwas anfangen können. Gure hörte den Klängen zu, und jetzt, wo Worme darüber nachdachte, entsann er sich, daß auch Moha von Gure inspiriert gewesen war, und das ihre seltsamen Tänze vielleicht nur ihre Interpretation derselben Sehnsucht waren, und im Grunde nichts anderes, als seine seltsame Wanderung. Und wandern musste er. Um nach Osten zu kommen hatte er den Weg der Fils weiter verfolgt, irrte sich mit der Eyb und ging dann bei Geislingen dem immer kleinere Bach nach Osten lang, hinauf nach Amstetten und schließlich, da wo der Fluss aus dem Berg springt, da konnte Worme nach Westen und nach Osten blicken, und er wagte es nicht zu hoffen, aber dies war die Stelle, an der sein Volk einst den Weg zum Neckar gefunden hatte. Dies war der Ursprung. Und so heisst der Ort noch heute.

 

Und so kam Worme in das Tal der Lone.

 

 

 

23

 

Ist es denkbar, daß im, sagen wir mal 310. Jahrhundert vor Christus ein Cro-Magnon Mensch sich auf eine Wanderung begeben hat. Vom heimischen Rhein aus den Neckar hinauf, und über die Fils zur Donau. Und dann immer weiter die Donau herab, bis zum schwarzen Meer. Und dann zwei Sommer in der Walachei, am tiefen schwarzen Meer, 200m unter der Meeresoberfläche. Und dann zurück nicht denselben Weg, sondern bei Belgrad einem südwestlichem Fluss folgend, der Save. In Laibach müssten die Menschen gewusst haben, das das Meer nur zwei Gebirgszüge entfernt ist, und immer wieder nutzten Wanderer den Predil Pass, um das warme fruchtbare Italien zu erreichen, das Mittelmeer und seine Verheißungen. Aber hier bekam Worme Schwierigkeiten. Schon lange lebten Menschen hier, das Hinterland klein, das Wild schon gefangen, immer feindseliger wurden sich die Menschen und begannen, ihre Territorien gegeneinander abzugrenzen und zu verteidigen. Worme entkam nur mit knapper Not lebend einem improvisiertem Standgericht missgelaunter Schläger, die behaupteten, er hätte gestohlen, was in Wahrheit eine Frau ihm gegeben hatte, die er nicht bloßstellen wollte, und erst als sie ihn vor dem Schlimmsten bewahrte, indem sie selbst dazwischenging und den Ärger so auf sich zog, ließen sie von ihm ab. Er schleppte sich so weit weg wie er konnte, und lag dann zwei Wochen unter einem Apfelbaum an einem kleinen Bach. Das war eine Vendetta, dachte er sich, und seitdem nannte man den Ort Venezia. Und er wusste, daß er den Heimweg suchen musste, und ihm schien auch, daß die Berge, die von zuhause ihm den Weg in den Süden versperrt hatten, nun im Norden ihn von seiner Heimat trennten. Die Berge aber war ein Wagnis. Niemand wusste, wie weit sie waren und wie hoch sie gingen. Es würde kalt und unwegsam sein, und eine Überquerung ein Wagnis, das zu einem einsamen Tod führen konnte. Gure hatte ihm erzählt, das ihm mal einer erzählt hatte von einem, der die Berge überquert hatte. Und sogar in den Bergen solle es Menschen geben, die da schon seit Ewigkeiten leben, dreiäugige Mischwesen aus Vogel und Mensch, die jeden Wanderer auflasen und verzehrten. Die Berge hatte Worme deshalb immer als eine Gegend betrachtet, wohin Menschen nicht gehen könnten. Aber ob das jetzt noch so stimmte? Er hatte auf seiner langen Wanderung immer nur Menschen gesehen, Neandertaler manchmal, von denen es auch verschiedene zu geben schien, aber die ganzen Märchen von Drachen und Löwenmäuligen Mischwesen wollte er nun nicht mehr glauben. Und so machte er sich schließlich auf den Weg, den er nicht kannte, den niemand kannte, aber immerhin traf er am Gardasee einen Wanderer, der ihm erklärte, das das ganze Land von unpassierbaren Bergen umgeben sei. Er war viel herum gekommen, aber Worme war nicht familiär geworden mit der venezianischen Sprache und verstand nicht viel. Aber so viel: Weiter nach Westen hin seien die Berge noch höher und undurchdringbarer. Und schließlich kommt man auch garnicht weiter nach Westen, weil dann dort auch Berge seien, und tatsächlich gäbe es da einen Übergang, von dem mal einer gesagt hat, dass da mal einer rübergegangen sein soll. Aber er glaubt das nicht. Es gibt nur ein Land auf der Erde, auf dem Leben möglich sei, und das sei dies Italien, das sei Udine und Treviso, Vicenca, Padua, Verona, Mantova Cremona, Brescia, Bergamo, Milano, Novara, Tur, Alessandrie, Pavia, Piacenza, Parma, Reggio, Modena, Bologna, Ravenna, Ferrara, Rovago und schließlich Venecia. Im Süden gibt es noch ein paar mehr und auch die älteste Stadt der Welt, aber dahinter sei das Meer und damit die Welt zu Ende. Da erzählte Worme ihm von der Save und der Donau und all den Ländern, durch die er gegangen sei, denn hinter Venetien läge Slavonien, und das erste Land sei die Posavina, und dann kommen Macva und Smyrnien, und dann kommen Wowidowina und das Banat, „genug, genug“ unterbrach ihn der Italiener, das kann ich mir alles nicht merken. Und sicherlich sprechen die da auch so komisch wie du.“ Worme hatte viel zu tun, die Sprachen zu lernen. Eine gewisse Geisteshaltung ermöglichte ihm das, wenn es ihm gelang, nicht zu denken, dann verstand er, was gesagt wurde, aber das war eine mühsame Form der Verständigung, und am schlimmsten war es hier, in Italien. Und nun würde er den Etsch hinaufwandern müssen, und den Übergang wagen. Der Sommer kam, und mit gutem Wetter gab es vielleicht eine Chance.

 

 

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Welcher Mensch würde eine solche Wanderung unternehmen? Worme aus dem 360. Jahrhundert vor Christus Geburt oder, anders ausgedrückt, aus dem 380. Jahrhundert vor unserer Zeit, der Zeitgenosse von Ross, dem Neandertaler. Wahrscheinlich ist, das die Menschen Beziehungen zueinander hatten und es immer welche gab, die laufen konnten, um Verbindungen aufrecht zu erhalten. Zu scouten. Zu wissen, wo was um einen herum ist.

Nicht umsonst ist der Mensch als aufrechter Mensch zum erstenmal unterschieden von den Affen, die ihm bis dahin in so vieler Hinsicht so ähnlich waren. Der Homo Erectus hat das Feuer begriffen und mit ihm den Aufbruch in die Zeit. Das dürfen wir ja nicht vergessen, wenn wir heute unsere Zahlenvorstellungen über solche Hinweise legen und sagen, das ist 370 Jahrhunderte her, oder 368 Jahrhunderte vor Christi Geburt, das auch die Zeit selbst dem Werden aller Dinge unterworfen ist und sich ändert. Niemand wird im sogenannten Jahre 2020 bestreiten können, das die Zeit schneller geworden ist und immer schneller wird. Und eines Tages wird sie sich ganz verändern und auf einmal überhaupt nicht mehr vergehen, bis sie vergessen ist, wie sie es war, bevor die Zeit zu dem wurde, was sie für uns ist. Und ob vor 37 Jahrtausenden die Zeit schon dieselbe war? Müßige Fragen, sicher. Aber, da alles aus einer Kreisbewegung heraus entsteht, ist auch die Zeit selbst durchaus in der Lage, zu ihrem eigenen Anfang zurückzukehren, immer wiederkehrende Schleifen zu produzieren, sich zu überlagern, zu überlappen, alles Kreise, die sich immer weiter sich immer weiter verändernd auseinanderschreiben, so das ein Anfang linear nicht zu ermitteln ist, nur der tiefere Sinn von Kreisen , die sich übereinander neigen. Gehen wir in der Zeit zurück ist es, als würden wir einem Flusslauf zu seinem Ursprung zurückverfolgen. Aber an jeder Flussgabelung gibt es nur einen Weg, der richtig ist, und alle anderen sind wie kurze Bäche, gespeist aus Illusionen, die den Weg zu einem kleineren Gipfel ebnen, aber nicht den eigentlichen Weg zurückzuverfolgen erlauben.

 

Der Homo Erectus also, der ins Feuer guckt. Hier müsste unsere Geschichte anfangen, denn noch Ross war ja ein Abkömmling einer uralten, Jahrzehntausende zurückreichenden Kultur.

Die Geschichte, die hinter Wormes Wanderung steht, und sie ist uralt, schon zu seiner Zeit. Seine Wanderung, wie so beschrieben, wäre vielleicht eher der Vorbronzezeit zuzuordnen, aber es hieße, die CroMagnon Menschen zu unterschätzen, würde man ihnen eine solche Reise nicht zutrauen.

 

Wenn die Welt aus Kreisen besteht, und die Zeit sich in Kreisen dreht, dann haben Ross und Moha dasselbe erlebt, was wir heute miteinander erleben. Wir lieben uns und wir streiten uns, wir haben Träume und Vorstellungen, Pläne und Sorgen. Sorgen vor allem, nie kann man ganz Mensch sein, weil die Bedingungen es nicht zulassen. Und so vergeht ein Menschenleben nach dem anderen in der steten Suche nach Erfüllung, und es mag vielleicht tatsächlich so sein, so munkelt man zumindest, das von Zeit zu Zeit ein Menschling darin erfolgreich sei. Und so kommen die ersten Geschichten von Helden in die Welt, und später werden aus Helden Götter, und keine Vernunft der Welt kann mehr erfassen, was in ihren Gehirnen die Menschen für Traumwelten sich erschaffen, seit die Sprache einmal angefangen hat, die Herzen zu verwirren.

 

 

25

 

Wobei ich an der Stelle noch einmal einige grundlegende Gedanken zur Evolutionstheorie erörtern möchte. Die Evolutionstheorie geht von der Vorstellung aus, das sich eines aus dem anderen entwickelt. Das dieser Prozess durch zufällige Mutation entstehen könnte, ist eine ebenso populäre wie unsinnige Theorie. Keine zufällige Abweichung von der Norm könnte durch einen positiven Effekt das ausgleichen, was sie im sozialen Umfeld an Abneigung und Ausgrenzung hervorruft. Soziale Wesen können sich durch zufällige Mutation nicht fortentwickeln. Punkt. Deshalb habe ich den Gedanken eingebracht, das in uns bereits ein Plan verankert ist, der die nächsten Entwicklungsschritte vorzeichnet. Das ist die teleologische Bedingung. Jede Entwicklung passiert, weil sie zwangsläufig sich aus der dna ergibt. In uns ist die Ureinzeller dna ebenso eingeschrieben, wie der Bauplan Gottes für den perfekten Menschen, und wir entwickeln uns hin dazu.

 

Auch diese Theorie krankt aber noch an bestimmten Vorstellungen, die wir als gegeben hinnehmen, ohne sie wirklich beweisen zu können. So hat eine Art zwar eine gewisse Varianz, innerhalb der bestimmte Entwicklungen möglich sind, aber man hat, weder experimentell noch sonstwie, jemals beobachten können, daß eine Art durch stetige Veränderung sich zu einer anderen Art entwickelt. Ein Affe kann sich zum Schimpansen, zum Bonobo oder zum Gorilla entwickeln, aber wie kann er die Artgrenze durchbrechen und zum Menschen werden? So gegeben wir das in unserer Vorstellung annehmen, so wenig wissen wir doch tatsächlich darüber.

Wir stellen uns die Entwicklung häufig analog eines Baumes vor. Aus einer gemeinsamen Wurzel verzweigen sich viele Stämme und Äste, die sich wieder weiter verzweigen, und so entstehen aus einer Keimzelle des Lebens die ganzen verschiedenen Formen. Aber jeder Baum stammt nicht nur aus einer Wurzel, er stammt aus einem Keim. Es braucht einen Keim, eine Nuss, einen Samen, aus dem ein neuer Baum entsteht. Und so gibt es die Theorie, daß die Arten aus Keimen entstehen, die auf der Erde ausgebracht werden, so wie wir Keime in einen Garten setzen, um daraus Gemüse zu ziehen. Und irgendwann kam jemand zur Erde, beschloß, den Wildwuchs auszurotten und die wertvollen Säugetierarten dort auszustreuen und anzusiedeln. Dieser Jemand wäre dann natürlich Gott, wobei „Gott“ eine höchst ungenaue Umschreibung verschiedenster Möglichkeiten ist. Die Vorstellung eines einzelnen, solitären Wesens, das aus seinem freien Willen heraus nach Lust und Laune schöpft, ist, ein historisch nachvollziehbares Missverständnis. Die Götter waren entweder Außerirdische, oder wenigstens Helden, Personen also mit personalen Beziehungen untereinander, in denen sie uns gleichen, oder aber es ist das göttliche Prinzip gemeint, die Schöpfung der materie aus dem Geistigen, aus der zugrundeliegenden Idee des Universums.

Ein solcher Gott hilft uns viel zu verstehen, wie sich das Leben entwickeln kann, aber er lässt sich logisch nicht als strafend, als willentlich und willkürlich handelnd, denkend. Die jüdisch-christlich-islamische Vorstellung des einen Gottes, der ein Volk als seines auserwählt und straft und belohnt, ist nichts anderes als eine irrtümliche Vermischung beider Gottesbegriffe (Außerirdische und Ursprünglicher Geist) zu einem Gedankenkonstrukt, das hilfreich sein kann, um Menschen zu leiten und ihnen eine spirituelle Orientierung zu geben, daß aber bei näherem Hinsehen nicht suffizient ist, die Welt zu erklären.

Was nicht heißt, daß die Religionen nichts zu sagen hätten, sondern nur, daß ihre Dogmen falsch sind.. Meister Eckhardt wusste mehr über das Christentum zu sagen als die Kirche in 1700 Jahren, der Koran kommt nicht an die Weisheit eines Rumi heran, und auch die Juden beweisen ihren Wert nicht in der Thoraauslegung, sondern in ihrem Beitrag für die Kultur der Menschheit.

 

Ich bezweifele nicht, daß in Thora und Bibel, in den vedischen Schriften und in den alten überlieferten Weisheiten eine tiefe Wahrheit zu finden ist, an die wir heute nicht mehr herankommen, weil wir Menschen seitdem weiter degeneriert sind, und deshalb die ältesten Schriften als die höchsten Manifestationen der Weisheit zu verehren haben. Und doch sind, aus einer anderen Sicht heraus, diese Schriften handwerklich ungenügend, voller logischer Sprünge, willkürlicher Anweisungen und in Teilen geradezu penetrant selbstverliebt. Ungeübte Schriften eben, Schriften, die entstanden, bevor eine Schriftkultur sich herausbilden konnte und mit ihr die Erkenntnisse über die Gesetzmäßigkeiten des Schreibens. In dieser Sichtweise gleicht unsere Verehrung der alten Schriften in etwa der Verehrung, mit der Eltern die ersten Bilder ihrer Kinder goutieren. Mit wohlwollendem Auge betrachtet sicherlich recht hübsch, aber eigentlich eben doch nur ein Kinderbild.

Wahrheit ist, zu verstehen, das beides stimmt. Die höchste Weisheit und die egoistischen Versuche eines Kindes sind keine Gegensätze, sondern bedingen einander. Dabei ist es so, das das offensichtliche der Unsinn ist, und die Weisheit sich versteckt und gefunden werden muss. Der Koran – eine endlose Litanei mit kaum einem anderen Inhalt als der Ermahnung, die Gebote zu beachten. Man wird zwanzigmal ermahnt, die Gebote zu beachten, und einmal steht da vielleicht ein Gebot, das man beachten könnte. Unglaublich. Aber dem Klang und dem Bild wird große Heilwirkung zugeschrieben. Vielleicht geht es im Koran gar nicht um den Inhalt? Vielleicht ist der Inhalt nur die Form, in die die tiefere Weisheit gegossen wird? Jedenfalls ist es sehr dumm, diesen Inhalt wortwörtlich zu nehmen und zu denken, weil es so da steht, ist das so auch richtig. Es steht so da, und es ist so richtig, aber auf welche Weise es so richtig ist, von welchem Blickwinkel aus es stimmt, welche Vorbedingungen erfüllt sein müssen, damit es richtig verstanden werden kann, das alles sind offene Fragen, und für unsereins, einem Westeuropäer des beginnenden 21. Jahrhundert, stellt sich der Koran dar als ein okkultes Buch mit empörendem Inhalt. Ganz ähnlich die Bibel. Wer, außer einem vollends bürokratisch verstumpften Nerd, kann das zweite bis fünfte Buch Moses lesen? Gesetze und Gesetze, eines widersinniger und unverständlicher als das andere.

Das sind Schriften, geboren aus dem Wunsch, die Welt zu ordnen, aber noch ganz ohne das Wissen darum, wie hilflos die Schrift dem Leben gegenübersteht, wie albern die Versuche sind, das Leben mit Gesetzen zu ordnen , als würde das Leben nicht immerzu die menschlichen Pläne durchkreuzen. Allmachtsphantasien von Magiern, denn Schriftkundige waren wohl eine Zeitlang Magier mit ihrer Kunst. Und doch, die alten Bücher in Bausch und Bogen zu verdammen, hieße übersehen, wieviel sie uns doch erzählen über uns, über die conditio humana. Die Wahrheit ist immer ein sowohl-als- auch, sie ist nicht der faule Kompromiss der Mitte, die Wahrheit vereint die Gegensätze, indem sie alles akzeptiert. Nicht rechts, nicht links, nicht in der Mitte, sondern alles aus vollstem Herzen und mit Entschiedenheit, ein klares, fanatisches sowohl-als-auch, das ist die Wahrheit. Ich glaube jeden Glauben und jede Wissenschaft, ich glaube jede Geschichte und jede Lüge, ich glaube den Erklärungen der Politiker und den Entlarvungen der Verschwörungstheoretiker. Ich glaube alles, und nur so, denke ich, lässt sich der Wahrheit auf die Spur kommen. Nichts ablehnen, alles bejahen, das ist die Wahrheit.

 

 

26

 

Worme ging also die Etsch hoch, in ein langes, fruchtbares Tal, in dem viele Menschen siedelten, die eifersüchtig über ihre enge Welt wachten, denn links und rechts erhoben sich schauderhaft hohe Berge. Er passierte die Gegend des heutigen Trient, und im fruchtbaren Tal von Bozen teilte sich der Fluss in eine westliche und eine östliche Richtung. Die östliche Richtung hätte ihn an der Eisach nach Brixen gebracht, und vielleicht, wäre der dort ansässige Menschenschlag weniger feindselig gewesen, hätte er erfahren können, daß es tatsächlich einen recht gangbaren Überweg nach Norden gab, über den Brenner, aber es schien ihm sicherer, die Menschen zu meiden und nach Westen zu gehen, wo , wie er vermutete, seine Heimat auch liegen müsse. Also ging er weiter ins menschenleere Gebiet von Meran und weiter zum Vintschgau, und der Fluss bog weiter nach Westen, während im Norden vor ihm die unglaublichen Ötztaler Alpen aufragten, Schneebedeckte Riesen noch im Sommer, und in den Nächten fror er erbärmlich, weil kein Fell ihn vor der Kälte schützen konnte, die aus den Bergen niederfiel, aber der Fluss schien kein Ende zu nehmen und wand sich immer weiter in die Berge hinauf, und schließlich gelangte er an einen See, und er dachte, jetzt müste es doch einen Übergang geben können , und er wanderte einen Bach hoch, der sich aus unglaublichen Höhen hinab zu werfen schien, und er kehrte wieder um, weil er vor der Nacht sich ins tiefere Land flüchtete, und er kam an einen zweiten See, der aus einem größeren Bach gespeist wurde, und den folgte er hinauf, und er dachte, hier müsse er nun hoch, aber die Berge um ihn herum wurden immer höher. Nach einer durchfrorenen Nacht beschloß er, das unmögliche in Angriff zu nehmen, und hinauf den Berg, der ja irgendwann auch einmal ein Ende haben musste, um an der anderen Seite wieder hinunterzuklettern, aber er fand sich am Nachmittag wieder in einem Gewirr von Felsriesen und hatte jede Orientierung verloren, er fand nicht mal mehr den Abstieg und verbrachte eine schlaflose Nacht, vor Kälte zitternd, und verfluchte sich und sein Leben, und stieg mit dem ersten Licht weiter hinab, so gut er es finden konnte, und ruhte nicht, bis er den trügerischen See wieder erreicht hatte. Vielleicht war es nicht immer die richtige Idee, dem größten Wasser zu folgen, wenn es aus den höchsten Bergen floß, vielleicht musste er einen Übergang woanders suchen, ein unscheinbarer Bach über einen unscheinbaren Bergrücken, vielleicht war das die Lösung. Aber dazu musste er jeden Bachlauf einzeln hinauf und hinunter laufen und dahinter in die Berge, und er wusste, das das kein gangbarer Weg war, weil es gab keine zweihundert Jahre für ihn, vielleicht noch drei Versuche diesen Sommer, und dann würde er zurückfliehen müssen nach Bozen und Trient und irgendwo auf eine freundliche Aufnahme hoffen, die er nur mit demütigender Arbeit sich würde erkaufen können. Aber er hatte Glück, das Glück des Tüchtigen, wie man heute sagt, dabei ist das Glück keine Funktion der Tüchtigkeit, sondern eine des Wandelns auf den rechten Kreisen. Wer auf harmonischen Kreisen wandelt, den begünstigt das Leben, und wer die Harmonie erkennt, wo er sie sieht, dem legt das Leben seine Schätze zu Füßen, und nur dem, der auf krummen Wegen besteht, auf seinen Eigensinn, und sich nicht dem Werden und Vergehen des Lebens anvertraut, der erntet sich damit die Schicksalsschläge, die doch nur Hinweise sind, daß es einen besseren Weg gibt. Nur wissen wir heute wenig von den natürlichen Wegen, und deshalb scheint es uns so unwahrscheinlich, daß ein Worme die Seinen so zielsicher findet, dabei ist alles, was er dafür brauchte eine gesunde Vorstellungskraft, eine unvoreingenommene Neugier und das Urvertrauen in seinen nächsten Schritt, und das führte ihn zu dem dritten See, dem Reschen See, und hinter dem lag, auf schon eisiger Höhe, aber nahezu unscheinbar, der Reschenpass, und schon ging es weiter einen Stillen Bach hinunter ins Engadin, eine Bergwelt von wildromantischer Schönheit und einem Liebreiz, der ihn an die Heimat gemahnte. Hier war lange kein Mensch gewesen, die Gräser schmeckten, Blumen gab es in Hülle und Fülle, und sie alle ließ sich Worme munden, und den nächsten Tag ließ er es sich nicht nehmen, eine Pause ganz für sich alleine zu machen, er fischte sich zwei Forellen aus dem See, die er roh verzehrte, weil er ein Feuer sich alleine nicht machen konnte. Er ging weiter und weiter, und der Fluss bog nach Westen, und er sah sich schon direkt nach Hause kommen, wähnte sich am Oberlauf des Rheins, obgleich er wusste, das der obere Rhein ihm anders beschrieben worden war, und als er zum größeren Fluß gelangte, den wir heute die Inn nennen, und der nach Osten bog, ahnte er langsam, wie lange er noch würde laufen müssen, denn einen solchen Zufluss von Süden hatte die Donau nicht in ihren oberen Gebieten. Und so verging noch ein Winter und ein Sommer, bis Worme schließlich den Rhein fand, an dem er einen weiteren Winter verbringen musste, ehe er, im fünftem Jahr, wieder zu der gemischtrassigen Neandertalsiedlung am Neckar gelangte.

 

 

 

 

27

 

In der Siedlung hatte sich inzwischen einiges getan. Moha war dreifache Mutter von Mischlingskindern, neben Jatta auch Fera und Henis, und auch Mara hatte zwei Mischlingskinder bekommen, Dorda und Nenkwist. Miss war nicht mehr da. Das Neandertalmädchen war tieftraurig gewesen, als Arn sich Mara zugewandt hatte, und war ausgewandert, manche sagten, den Neckar hoch, Worme hinterher, andere behaupteten, sie sei zu der älteren Neandertalergruppe unten am Fluss gelaufen. Wenn sie aber da gewesen war, so war sie da jetzt nicht mehr, und Ross nahm an, sie sei den Rhein hoch zu den Plätzen ihrer Kindheit gelaufen, wo ihre kleine Gemeinschaft zerstört worden war, und er dachte mittlerweile an sie als eine Tote, denn er wagte nicht zu hoffen, daß sie noch lebte. Die Wahrheit war aber schlimmer. Sie hatte einen Winter bei Sapiensmenschen verbracht, denen sie sich andienen mußte, um Aufnahme zu finden. Sie schlief also mit den Männern und tat so, als gefiele es ihr, damit sie sie bei ihnen liessen. Im Sommer war sie schwanger und konnte nicht weglaufen, aber ihr Kind töteten die Sapiens, und sie musste einen weiteren Winter der Demütigung überleben, wurde wieder schwanger, diesmal aber so rechtzeitig im Jahr, daß sie vor dem Winter noch fliehen konnte, nur um zu anderen Sapiens zu gelangen, die sie nicht wirklich besser behandelten. Nur, daß sie hier eine Freundin fand, die ihr half, wenigstens die Schwangerschaft zu vermeiden, indem sie ihr die bitteren Kräuter sammelte, die sie aß, wenn der Mond hoch stand. So konnte sie im Frühjahr fliehen, und es gab keinen anderen Weg, als den reumütigen Weg zurück, und wenige Wochen nach Worme traf auch sie wieder in der Siedlung ein. Worme war gekommen wegen der Frauen, Moha und Mara, die er, nachdem der alte Gure während seiner Abwesenheit gestorben war, neben seinem Freund Finu als Einzige Menschen wirklich mochte, und Finu war anders geworden, er kümmerte sich um die Jagd, ums Früchte sammeln und um die Kinder, die seine Freundin hatte, und war nicht mehr geneigt, abenteuerlichen Reisen sein Interesse zuzuwenden, oder etwas anderes aus seinem Leben zu machen, als das, was er jetzt sich aufgebaut hatte. Der Winter war nett gewesen, aber es hielt ihn nichts dort, und so wanderte er zurück zu Moha und Mara.

 

  

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Die zu seinem großen Erstaunen gar nichts von ihm wissen wollten. Sicher, sie waren interessiert an seinen Geschichten, sehr interessiert und voller Bewunderung, aber ihr Lager teilten sie mit ihren Neandertalmännern und schienen überhaupt nicht darauf erpicht, dieses Lager aufzugeben, um ihn in der Nacht zu wärmen. Nun war er es ja gewohnt, alleine zu schlafen, und sogar ohne Feuer, aber die ganzen Entbehrungen hatten seinen Körper auch ausgezehrt, seine elegante Dynamik war einer hageren Strenge gewichen, er bewegte sich auch nicht mehr so geschmeidig wie fürher und oft taten ihm die Knochen weh, Beschwerden, die er auf seiner Wanderschaft wohl auch schon bemerkt hatte, die er aber noch abtun konnte, nun, zu Hause, oder wenigstens so zuhause wie ein Wanderer wie er es sein konnte, musste er sich eingestehen, daß er älter geworden war, und die Wanderung westlich um die Alpen herum, die er sich eigentlich doch vorgenommen hatte, schien ihm plötzlich nicht mehr realistisch, und niemand wollte ihm sein Bett wärmen, außer einer Neandertalerfrau mit einer quäkenden Stimme, die er für eine Nacht in sein Lager ließ, aber dann nicht mehr, weil er sie einfach nicht neben sich haben mochte.

 

Und dann kam Miss zurück. Sie war eine gebrochene, verbitterte Frau geworden, ihre früher so heitere Grundstimmung war verflogen, stattdessen suchte sie oft die Einsamkeit, redete wenig und eigentlich nur mit Ross, der wie sie abends am Feuer saß und in es hineinstarrte. Auch er konnte nicht viel erfahren, aber daß die Kinder tot waren und die Sapiens böse, und eines Tages, aus heiterem Himmel, griff sie mitten am Tag Worme an, traktierte ihn mit ihren Fäusten, quäkte auf ihn ein, und Worme, zu überrascht, um sich zu wehren, nahm ihre Schläge hin wie ein unvermeidliches Unwetter und wäre wohl noch totgeschlagen worden, hätten die anderen Frauen nicht Miss schließlich von ihm runtergezogen.

Das war der Auftakt zu einer fürchterlichen Nacht, in der alle Eifersüchteleien in der Gruppe, und von denen gab es viele, zum Thema wurden, ein junger Mann wollte Ross verprügeln, um selber Anführer zu werden, Arn ging dazwischen und sah sich von zwei Frauen bedrängt, die ihm vorwarfen, sich für etwas besseres zu halten, seit er mit Mara zusammen war, Mara und Moha wurde vorgehalten, sie arbeiteten zu wenig für die Gemeinschaft und ließen sich bedienen und eine Frau warf ihnen vor, sie würden den Männern schöne Augen machen, und all das und mehr brach sich auf einmal Bahn, und es flogen Fäuste und es gab eingeschlagene Zähne und blutige Köpfe, aber die alte Kerr warf Pilze und Kräuter in die Erdlochsuppe, und mit der Dämmerung kamen Vershnngsszenen und wilde Tänze und Musik, die Neandertaler sangen ihre nasalen Weisen, Arn flötete, andere schlugen mit Stöcken auf Baumstämme ein, um einen Rhythmus zu forcieren, und es wurde eine wilde, orgiastische Nacht, wie nur Neandertaler sie feiern können. Auch Moha und Mara stimmten mit ein mit ihren schönen vollen weichen tiefen Stimmen, und später in der Nacht wurden Kinder gezeugt. Auch Miss und Worme dagegen absentierten sich, allerdings ohne ein Kind zu zeugen. Sie würden die Rest der Nacht reden, sie in ihrem nasalen Neandertalisch, er in all den Sprachen, die er unterwegs gelernt hatte, denn wenn sie auch die Worte des anderen nicht oder nur schlecht verstanden, so kam es ihnen doch auf etwas anderes an, auch nicht auf Sex, nein, das war kein Thema, denn beide hatten ihre Verletzungen und ihre Einsamkeit zu tragen, und begannen, sie miteinander zu teilen. Miss schmiegte sich an seine Brust und Worme streichelte ihren Kopf, aber mehr passierte nicht, nur daß sie auf die frühen Vögel hörten und der Morgendämmerung zusahen, daß sie die frische Luft gemeinsam atmeten, und sich gegenseitig Kräuter in den Mund steckten.

 

 

Zweites Buch

 

 

1

 

 Die Gemeinschaft von Ross und Moha, ihre Kinder Jatta und Garbor, lebten ein kurzes Jahrzehnt friedlich und glücklich. Sie erzählten sich Geschichten, die meist auf den Abenteuern von Worme beruhten, der immer noch ein Wanderer war, nicht mehr so weit lief, dafür genau wusste, welcher Stamm wo wohnte, wo sich Neandertaler aufhielten und wo Sapiens, welche Gegenden ganz unbewohnt waren oder nur im Sommerlager genutzt wurden, und das das kein müßiges Wissen war, erwies sich am Ende dieses Jahrzehnts. Es war am Ende eines schwierigen Winters, der zwar nicht sehr kalt war, aber auf einen feuchten Sommer folgte und mit vielen Stürmen aufwartete, die sie in ihren nunmehr zerschlissenen Hütten zusammenzukauern zwang. Es hatte schon einige wärmere Tage gegeben und man hatte auf den Frühling gehofft, aber dann kam ein Schneetreiben von Westen und es schneite drei lange Tage lang und die Schneeberge wurden immer höher, und dann kam ein kalter Wind von Osten und sie waren in ihren Hütten eingegraben und konnten sich kaum zueinander bewegen. Miss starb als erste, und mit ihr der kleine Nado, ihr Sohn, und dann starben auch die anderen Neandertaler, nur Ross lebte. Die Sapiens und Halbsapiens der Gruppe blieben weitgehend verschont, vom kleinen Nado abgesehen, aber Arn starb und Kerr auch und als der Schnee schmolz, waren Worme, Moha und Mara allein mit ihren Kindern, den Neandertalbälgern, und eigentlich hätten sie nur zurückgehen müssen, zu ihrer alten Sippe, aber sie wussten, welche Häme und Verachtung dort ihren Kindern entgegenschlagen würden, den Halblingen, diesen eigenartigen Wesen voller Kraft und Eigensinn, die sprechen konnten wie Sapiens und sich bewegten wie Neanders und die einfach nur zu jung waren, um schon selbständig eine neue Gruppe aufzumachen. Die Großen wussten das. Sie brauchten jemanden, sonst wäre der nächste Winter eine Katastrophe. Und dafür waren die Wanderungen von Worme gut gewesen. Er kannte die Stämme der Umgebung und wusste von der Verachtung, mit der die Mischlingsgruppe betrachtet wurde. Auch die Neandertalergruppen würden sie nicht aufnehmen. Und fremde Sapiensgruppen wären voller Mißtrauen gegen ihre Kinder. Und auf seinen ganzen Reisen hatte Worme nur wenige Menschen kennengelernt, die die Großmut besaßen, die sie jetzt brauchten, aber es gab sie, und bald wußte Worme, wohin sie sich wenden mussten, um zu überleben. Das versteckte Tal am Rand der Berge war schon immer eine Zuflucht gewesen. Schon der alte Gure hatte davon erzählt, von den Kräuterfrauen, die giftige Tränke brauen konnten, die einen auf Traumreisen schickten. Sie würden niemals freiwillig eine kleine Gruppe Menschen bei sich aufnehmen, aber die besonderen Umstände würden dort auf Verständnis stoßen, so hofft er zumindest, und so führte er sie dorthin.

 

 

2

 

Die kleine Gruppe um Worme und Ross, Moha, Jatta, Fera und Nenkwist gelangte an den Bodensee, hinter dem die hohen Berge der Alpen aufragten. „Hier muss es irgendwo sein“ sagte Worme, aber das sagte er schon seit Tagen, und die Tage wurden immer kürzer und der Wind immer kälter. Dorda, Henis und Mara waren gestorben, sie wurden nicht richtig satt, sie konnten sich nicht richtig warm halten, Ross und Fera waren zu langsam, aber auch eine Überwinterungsmöglichkeit war hier nicht zu entdecken. Sie waren verloren, und allmählich begriffen sie, daß sie verloren bleiben würden, wenn nicht ein Wunder geschah.

Ein Wunder ist etwas, das dann passiert, wenn man nicht damit rechnet, und so war es auch hier. Eines Morgens stand ein Junge vor ihnen, der furchtlos vor ihrer Schlafstääte stand und mit einem Handspeer spielte.

„Ihr seid vom Weg abgekommen“ sagte er in ihrer Sprache. Er betonte die Worte merkwürdig, und erst verstanden sie ihn nicht, aber nach einer Zeit fanden sie heraus, was er sagte. Sie waren am Nordufer des Bodensees entlanggegangen und hatten nach einer Insel gesucht, aber die gab es da nicht. Und der Junge führte sie drei Tagesmärsche zurück, um am Südufer langzugehen. „Das ist eine Halbinsel“, erklärte er. „Und die Insel, die ihr sucht, ist immer noch im Süden.“ Wie kann eine Insel im Süden sein, wenn im Norden der See ist?“ fragte Worme, der sich sicher gewesen war, den Anweisungen von Gure gefolgt zu sein, und der KJunge, der sich Herme nannte, erklärte es ihm. Und nach weiteren zwei Tagen waren sie da. Eine Insel lag vor ihnen, die Reichenau, aber es war unmöglich, da herüber zu gelangen, jetzt im Herbst, wo das Wasser schon wieder kalt war. Wir schwimmen nicht, wir warten auf Boote. Und am nächsten Tag sahen sie einen Baumstamm, auf dem ein Mensch saß, der zu ihnen herüber ruderte. Und im Laufe des Tages brachte er sie alle herüber.

„Woher wusstet ihr, das wir Euch suchen?“. Diese Frage hatten sie natürlich gleich auf der Wanderung gestellt, aber Herme lächelte nur. „Wir wissen eben Bescheid“ hatte er gesagt, mit soviel Spott in der Stimme, das niemand nachfragte. Sie hatten genug zu tun, die Wanderung überhaupt noch zu schaffen.

Die Insel war viel zu klein, um zu jagen, und Ross wunderte sich, wie hier Menschen leben konnten, aber er sah auch die vielen Brombeerhecken, Haselbüsche und Apfelbäume und viele kleine Schweine, die durch die Gegend zogen. Das Dorf bestand aus einem guten Dutzend Hütten, Tierfelle zwischen Bäumen gespannt, und alles hatte eine merkwürdige Ordnung. „Zieht ihr gar nicht umher“ wollte er fragen, aber die einzige, die ihn verstand, war Moha, und die hatte selber zu viele Fragen.

„Ihr geht zur Urla“ bestimmte Herme und führte sie in das größte Zelt, das mit Binsen sorgfältig ausgelegt war und eine rechte Behaglichkeit verströmte. Es gab ein Feuer, und die alte Urla saß davor und lachte, als sie sie sah.

„Das also ist Worme“ rief sie aus, noch bevor es irgendeine Vorstellung gab. „Der Wanderer, der nichts sieht!“ Worme wollte protestieren, ehe er bemerkte, daß er gar nicht verstand, was sie von ihm wollte.“

„Wie meinst Du das?“ fragte er. Abstandswahrende Höflichkeitsfloskeln wie „Sie“ gab es damals noch nicht.

„Ich meine, da ist ein Mann, der einmal die halbe Welt umrundet, und doch nichts von ihr gesehen hat!“, antwortete sie herausfordernd.

„Ich habe die Donau gesehen, protestierte Worme, und den schwarzen See (das schwarze Meer war damals noch ein See), ich habe Slawonien durchquert und die Lombardei und bin über die hohen Berge geklettert!“

„Geklettert, ja, das bist du“ erwiderte sie, hast deine Beine gut bewegt, das schafft auch nicht jeder, aber gesehen hast du nichts!“

„Ich habe so viele Völker gesehen, ich habe Sprachen kennengelernt und Menschen.“

„Sprachen, ja,“ lachte die Urla, „sprechen wir nicht alle dieselbe Sprache? Akzente, Dialekte, Eigenarten, man kann jeden Menschen verstehen, außer dem da.“ Sie sah Ross an. „Herzlich willkommen, Ross, aus dem Neandertal. Dein Weg ist wirklich hochinteressant. Singst du etwas für mich?“

Ross hatte keine Ahnung, wie sie das gemacht hatte, aber sie hatte ihre Worte so gewählt, so gesprochen, dass er wusste, was sie von ihm wollte. Aber dennoch zögerte er. Singen war nichts, was man einfach so aus dem kalten tat. Da brauchte es ein Feuer für, am besten auch die Nacht, Singen war für die Zeiten, in der man mit der Anderswelt kommunizieren wollte, und das war tagsüber unter Fremden mehr als ungewöhnlich, wenn nicht sogar unmöglich. Urla schien das zu verstehen, und da die Fremden immer noch standen, sie waren ja ohne weitere Floskeln gleich von ihr ins Gespräch gezogen worden, lud sie sie jetzt ein, zu sitzen.

 

„Worme, ich wollte dich nicht beleidigen. Auch du hast wertvolle Arbeit gemacht, und ich werde dir später erklären, was du nicht gesehen hast, aber jetzt nimm doch bitte die beiden Kinder und lass dir von Herme zeigen, wie wir hier leben. Ich habe mit Moha und Ross zu reden.

Jetzt war es an Herme, zu protestieren: „Ich möchte wissen, was hier geredet wird! Du kannst mich nicht ausschliessen!“ Urla antwortete mit schnellen Worten, die keiner der Neuankömmlinge verstand, sehr bestimmt, sehr genau, und Herme verschwand mit Worme, Fera und Nenkwist. Jatta blieb unschlüssig stehen. Als Urla auf die Kinder zeigte, war ihr, als sei sie nicht gemeint gewesen, obwohl sie noch ein kind war, wenn auch etwas älter als die beiden. Sie wollte sich geschmeichelt fühlen und beschloß, zu bleiben, obwohl sie lieber mit rausgegangen wäre. Das Erwachsenengespräch konnte schnell ins langweilige und unverständliche rutschen, aber es hatte ihr gefallen, wie Urla Worme niedergeredet hatte, denn Wormes Arroganz ob seiner Großtat konnte er nie ganz ablegen, und Jatta sah das gut.

Es dauerte nun eine Weile, bis sie sich bequem hingesetzt hatten, Felle drapiert, zurechtgerückt. neben Urla saß noch ein schweigsamer Mann, der nun einige Zweige aufs Feuer legte und den Neuankömmlingen einen Trank aus einem Widderschädel anbot, dazu redete er in einer Sprache, die sie nicht verstanden, aber Jatta verstand wohl, das sie nicht neben ihren Eltern sitzen sollte, sondern am Rande des Zeltes. Sie schlürften den Trank, der vom Feuer warm war und sehr würzig schmeckte, fast wie einer von Kerrs Tränken, nur weniger bitter. Aber jetzt war nicht der Zeitpunkt, so etwas abzulehnen. Die Urla schwieg noch einige Minuten lang, dann kam Herme zurück, setzte sich neben Jatta und war sofort still.

 

„Und jetzt“ sagte Urla zu Ross, „bitte singe mir von deinem Leben.“

Ross hatte es geahnt und war nun nicht mehr ganz unvorbereitet, dabei hatte er lange nicht mehr gesungen, nicht so wie früher, denn seit er mit den Sapiens mit ihren vollen und tiefen Stimmen zusammenlebte, schämte er sich ein wenig des nasalen Klanges, aber dann, erinnerte er sich, ging es beim Gesang ja eigentlich nicht um Schönheit. Sie hatten immer so gerne Maras Stimme gelauscht, nur deswegen, und dabei hatte er fast vergessen, daß es beim Gesang ja um etwas ganz anderes geht. Und so besann er sich jetzt auf seinen inneren Raum, nahm Kontakt auf zu seiner Traumgestalt, die in ihm wohnte und begann sein Zwiegespräch mit ihr. Das war der Gesang. Er merkte nicht, ob und wann die Töne nach draussen drangen, es ging ihm nicht um den Klang, es ging darum, was seine Traumgestalt ihm erzählen wollte, und dafür lieh er ihr seinen Körper, seine Stimme und lauschte selber gebannt zu, von der langen Stunden am Feuer, ind enen er über die Welt meditierte, über die unbeschwerten Jahre seiner Kindheit, und dann erinnerte er sich an die schwere Krankheit, die damals schon in ihrem Dorf gewesen war, und jetzt erinnerte er sich, das das damals gewesen war, als eine der Frauen bei den Sapiens gewesen war, und im nächsten Winter kam die Krankheit über sie und die Hälfte des Dorfes war gestorben. Er hatte damals lange Wochen im Fieber gelegen und alle waren erstaunt, das er überlebt hatte, und jetzt erinnerte er erst, daß er seitdem diese Neigung für das Feuer entdeckt hatte, und als er nun an die dachte, die letzten Winter gestorben waren, sang er eine Klage für ihre Seelen, und er rief sie mit seiner Stimme, und sie kamen herbei und hielten sich an den Händen, und das war so schön und traurig, das ihm die Tränen über das Gesicht rannen, aber er sang weiter, denn er wusste, nur der Gesang hielt diese Verbindung aufrecht, und so sang er, bis die Figuren verschwanden und er erinnerte die Zeit, in der Lies die Menschen beobachtete, die Entführung des Sapiensmädchen, und eine andere Traurigkeit überkam ihm, eine weniger bittere, aber auch weniger tröstende, denn er hatte sich nie ganz verziehen, damals nicht Geir überwältigt zu haben um das Mädchen zu schützen, selbst wenn es ihm nicht gelungen wäre, und ein anderer Traum stieg aus seinem Gesang auf, der Traum, das Mädhcen in Ehren gehalten zu haben, und die Sapiens hätten sie nicht überfallen und getötet, sondern angefangen, mit ihnen Handel zu treiben, weil das Mädchen sie davon hätte überzeugen können, und dieser Traum musste doch wenigstens irgendwo auf der Welt Wirklichkeit werden können, aber der Traum sagte ihm selber, dass das ein Traum war, und so sang er weiter von seiner Wanderung mit Miss und voller Entsetzen erkannte er, dass er damals, als sie noch gar nicht alt genug dafür war, schon hand an sie gelegt hatte um seine Begierde zu befriedigen, und einen Moment stockte der Gesang, bis Miss selber vor ihm stand und ihm verzieh und sagte, das sei bei weitem nciht das Schlimmste gewesen, und es war ja auch Liebe gewesen, und so gab sie ihm die Erlaubnis, weiterzusingen, während er mit seinem wachen Auge sah, wie Herme sich an Jatta herankuschelte, die auch nicht älter war als Miss damals, und er hätte ihn fortjagen wollen von ihr, aber musste doch weitersingen und konnte nur zusehen. Jatta sah ihn an dabei. Sie wirkte schläfrig und passiv, aber nicht ängstlich, und so war es wohl der Lauf der Dinge, und nun sang Ross von seinen Tänzen mit Moha, und wie aufs Stichwort hielt es Moha nun nicht mehr an ihrem Platz, und sie begann zu tanzen, so gut es in dem engen Zelt ging, gebückt, auf der Stelle, mehr mit einzelnen Gliedmaßen als mit dem ganzen Körper, aber voller Anmut zeichnete sie die alten Kreise und wieder kamen Ross die Tränen, diesmal, weil ihm klar wurde, wieviel Schönes er erlebt hatte, und seine Traumgestalt gab ihn einen Blick in die Zukunft, wo aus seinem Gesang tausend Töne von tausend Instrumenten wurden, und tausend Tänzerinnen bewegten sich dazu in den Kreisen der Zeit, und das Feuer erzählte seine Geschichte, und die Berge erzählten ihre Geschichte, und die Wälder erzählten ihre Geschichte, und die Flüsse erzählten ihre Geschichte, und die Tiere erzählten ihre Geschichte, und die Vögel sangen dazu, und die all das war komprimiert in dem einen Ton, der nun noch auf seiner Kehle lag, den er formte und modulierte, und als dieser Ton zu Ende ging dachte er schon, er hätte genug erzählt, aber dann gab es noch etwas, und jetzt waren es Worte, die aus ihm kamen und er erzählte von ihrer Gemeinschaft, der gemischtrassigen Sapiens-Neandertaler Gemeinde und ihren gemeinsamen Festen, von dem Feuer, das sie sich schufen, und ihrer schönen, utopischen Welt, sie sie sich aufgebaut hatten, bis die Krankheit kam und alles zerstörte und sie auf ihren Weg hierher schickte. Und plötzlich brach der Gesang ab und Ross kippte um. Er wäre ins Feuer gestürzt, hätte Moha ihn nicht aufgehalten.

 

 

3

 

Und Urla sprach: Es gab einst eine Zeit, in der die Seelen der Menschen noch eins waren mit sich. Damals gab es keine Geschichten, denn es gab nur das Sein. Und damals gab es keine Zeit, denn es war immer Jetzt. Die Menschen lebten, ohne Gedanken an das Morgen, ohne Pläne und Intrigen, und ihr Ziel war kein anderes als die Verwirklichung des Augenblicks.

Aber dann sahen wir ins Feuer, und das änderte alles. Der Mensch, der ins Feuer blickt, erkennt die Zeit. Aus dem Sein wird ein Werden und Vergehen, und in dem Moment, wo die Seele anfängt, sich nach etwas Gewesenem zu sehnen, oder auf etwas Zukünftiges zu hoffen, in dem Moment ist sie nicht mehr eins mit sich. Aus der Gewissheit werden Fragen, aus dem ewigen Sein wird ein fragiler Moment, eingeschlossen von der Ewigkeit der Zukunft und Vergangenheit. Der Mensch beginnt zu sein, denn der Mensch, das ist das fragende Wesen, der nach Rückversicherung sucht. Wenn ein Tier von seinen Sinnen getäuscht wird und sich irrt, dann folgt es dem Irrtum solange, bis seine Sinne ihm das berichtigen. Der Mensch aber, einmal auf dem Pfad des Irrtums, macht aus seinem Irrtum eine Illusion, der er noch anhängen kann, wenn seine SInne ihm klar das Gegenteil bewiesen haben. Mehr noch, der Mensch lebt in seiner Illusion. Er erklärt sich seinen Moment als das Zusammenspiel von Vergangenheit und Zukunft, , anstatt ihn für das zu nehmen, was er ist. Er macht sich seine Welt. Und nach und nach hat er gelrnt, die Welt seiner Illusion mit Worten zu benennen und er hat angefangen zu sprechen. Das waren wirkungsvolle techniken im Kampf ums Überleben, denn man braucht eine Zukunft, um ein Werkzeug so zu bearbeiten, daß es später seinem zweck besser dient, und mit Worten lässt sich ein eGemeinschaft viel effektiver organisieren, weil man klare Absprachen treffen kann , und nicht darauf angewiesen ist, daß jeder das gemeinte tut. Aber es gibt einen Preis, und das ist der Zweifel. Der denkende Mensch kann sich seiner Welt nie sicher sein. Auch eine Gefahr, die nicht droht, könnte später drohen, ein Ungemach, das nicht da ist, könnte später einmal da sein, und so wendet sich der Mensch der Zukunft zu und verliert dabei die Einheit des Seins. Denn ist der Geist in der Zukunft, so ist der Körper doch noch im Jetzt, und die Seele hat die schwierige Aufgabe, beide zusammenzuhalten. Wie aber hält die Seele Geist und Körper zusammen? Der Geist kann im jetzt nicht mehr wohnen, der Körper bleibt in ihm verhaftet, also schafft die Seele eine neue Welt, in der Geist und Körper wieder eine Einheit bilden können. Der Mensch fängt an zu singen. Im Gesang darf der Geist streunen wohin er mag, er wird vom Körper gehalten. Im Klang der Stimme vereint sich die transzendente Welt der Schatten und Geister von Zukunft und Vergangenheit, mit dem materiellen Sein des Jetzt. Der Gesang ist die Brücke, die den Körper zum Geist führt, im Gesang bekommt die Seele des Menschen eine Heimat. So war es für lange, lange Zeit. Es ist nicht die einzige Technik, die das möglich macht, allein der Blick ins Feuer, der die Trennung erst möglich gemacht hat, kann auch wieder eine Verbindung schaffen, dann die Liebe natürlich, diese unergründliche Himmelsmacht, der Blick in die Sterne, die Bemalung des Körpers, die Anrufung der Geister, all das sind Hilfsmittel, aber der Gesang war wohl das Stärkste. Aber die Entwicklung geht weiter, und die Menschen veränderten sich. Es kamen neue Menschen auf die Welt, die besser sprechen können, die mehr Worte machen, die sich größere Illusionen schaffen, richtige Eigenwelten, in denen ein Geist sich verlieren kann. Waren sich die Neanders noch stets bewusst, wenn ihr Geist auf Wanderschaft ging, und konnten ihn zurückholen mit ihrem gesang, ist das für uns nicht mehr so einfach. Unsere Sprachwelten schaffen ein Eigenleben, in dem wir uns verlieren. Unser Gesang kommt oft nicht mehr aus der Einheit des Seins, und er erzählt nichts, wenn er nicht daraus kommt. Danke, Ross, es war wichtig für mich, dies einmal zu hören, um zu begreifen, woher wir Menschen kommen und wohin wir gehen. Wir entwickeln andere Technicken, uns auf unsere Einheit zurückzubesinnen, wir bauen Altäre und malen Geistwelten auf, und deshalb, Worme, habe ich gesagt, du hast nichts gesehen, weil du nur das Leben der Menschen besucht hast, aber ihren Ritualen hast du nicht nachgespürt. Du hast Frauen geliebt, aber bevor du die Schamanen fandest, warst du schon weiter gewandert. Du hast am Feuer gesessen und gefeiert mit den menschen, aber du hast nicht ihren Gesängen gelauscht und die tiefere Wahrheit verstanden, dafür hattest du keine Zeit. Und das ist das Schicksal von uns neuen Menschen. Unser Geist raubt uns die Zeit, denn indem er uns erlaubt, unsere Hoffnungen und Erinnerungen zum Leben zu erwecken, in ihnen zu verweilen, damit nimmt er uns den Moment, der der einzige Moment ist, den wir haben. Und dieser Moment ist keine Ewigkeit mehr lang für uns, es ist nur noch ein wniziger Moment, eingespannt zwischen den Ewigkeiten der Zukunft und der Vergangeneheit, aber er ist alles, was wir haben, um zu leben. Und er wird kleiner, je größer die Illusionen werden. Aber das ist unser Schicksal. Ich fürchte, wir Menschen werden noch viel mehr vergessen, und wir brauchen Wege, uns zu erinnern.

 

Das ist die Geburt der Religion.

 

4

 

Jatta

 

 

Jatta saß also neben Herme, als der Gesang ihres Vaters begann. Sie hatte den Jungen auf ihrer Wanderung ja schon kennengelernt, aber da hatte er sich nicht abends an sie gekuschelt, im Gegenteil, er hatte immer Abstand gewahrt und kein Wort an sie und die anderen Kinder gerichtet, und die Abneigung, die sie bei ihm gespürt hatte, war ihr voll bewusst gewesen. Deshalb war ihre anfängliche Begeisterung für den Jungen, der sie immerhin aus einer fast ausweglosen Situation gerettet hatte, fast schon einer bockigen Ablehnung gewichen, und so, als sie jetzt nebeneinandersaßen, war sie der plötzlichen Nähe mißtrauisch gegenüber. Zwar widerstand sie dem Impuls, sich gleich aus der Umarmung zu lösen, weil sie hier im fremden Zelt nicht wagte, etwas anders zu tun, als von ihr erwartet wurde, aber sie schmiegte sich auch nicht in ihn hinein, wonach sie sich an ihrem ersten gemeinsamen Abend gesehnt hatte, und wo er noch nichts von ihr wissen wollte. Mißtrauisch beobachtete sie die Hand in ihrem Rücken. Dann aber veränderte sich die Welt um sie herum. Das Getränk, was ihnen angeboten worden war, war ein Zaubertrank gewesen und nun drehte sich die Welt um sie herum und sie wusste nicht, wo unten und oben war, und ihr blieb nur die Hand als Stütze. Plötzlich schoss der bittere Trank ihre Kehle hoch und sie fürchtete, sich übergeben zu müssen, aber der Druck ließ so plötzlich nach wie er gekommen war, und ließ sie fürchterlich schwach zurück. Nun war sie froh über den Arm, den er wies ihr einen Weg, wohin sie zusammensacken konnte und sank so in Hermes Schoß, der anfing, ihr wie beiläufig durch die Haare zu streichen. Das beruhigte Jatta, und bald atmete sie tief, und die Zelthöhle begann vor ihren Augen zu verschwinden und der Klang von Ross Stimme trug sie hinaus zu den Sternen, obwohl es ja noch Tag war und die Sonne warm schien, aber ihr Geist war bei den Sternen, getragen von einer Bahn aus knisterndem Feuer und näselndem Gesang, und sie hörte Stimmen ihren Namen rufen, sie hierher und dorthin lockend, und sie wusste nicht, wohin sie sich zu wenden habe, weil die Sonne so hell schien und die Sterne gar nicht zu sehen waren, und so brach ihr Traumbild zusammen und sie fand sich wieder in dem Zelt, wo Herme sie immer noch streichelte, und sie lag in seinem Schoß und nun bemerkte sie sein steifes Glied, das neben ihrem Gesicht in die Höhe ragte. Sie wusste, was Männer wollten, wenn ihr Glied steif war, sie hatte es oft gesehen, die Menschen schämten sich damals noch nicht so wie heute und verbargen sich nur ein wenig, mehr aus dem Bedürfnis nach Schutz, als aus Scham, und sie wusste, wie ihre Eltern miteinander schliefen und hatte es auch bei anderen gesehen, aber das war immer eine Welt gewesen, die sie nicht interessiert hatte, abenso wie die anderen Kinder, einmal, das war schon jahre her, hatte sie mit einem Freund versucht, nachzumachen, was sie gesehen hatte, aber das war sinnlos gewesen und führte zu nichts. Nun aber sah sie das Verlangen von Herme vor ihren Augen und ahnte, daß es nun an ihre Zeit kommen sollte, aber sie spürte selber nichts, was sie dahin rief, und so wandte sie ihren Kopf in die andere Richtung und schloss wieder die Augen. Herme machte ihr derweil Platz,und legte sich langsam hin, immer ihren Kopf in den Händen haltend, immer weiter sie streichelnd, und Jatta konnte sich wieder den kreisen überlassen, die sich um ihr und in ihr drehten, und auf einmal schritt sie über eine Blumenwiese, die seltsam stark duftete, und die Sonne schien warm vor ihr und sie ging darauf zu, und die Hitze der Sonne wuchs, und der Duft, nahm ihr bald den Atem, und sie sah vor sich ein Gesicht, das Gesicht der alten Urla, aber in jugendlicher Schönheit, nein, in ewiger Schönheit, ein zeitloses Gesicht, und sie rief ihren Namen und Jatta ging zu dem Gesicht, und dann verstand sie auf einmal einen Satz: „Jatta, Du hast eine Bestimmung!“ und dann war das Gesicht verschwunden, und Jatta sah sich um und wunderte sich, denn ein Teil von ihr wusste genau, das sie eigentlich in dem Zelt lag, aber wenn sie doch in dem Zelt lag, wer ging dann über diese Wiese, und sie begriff, daß es ihre Seele war, und ihr wurde gerade gesagt, daß sie eine Bestimmung hätte, aber da fehlte etwas, weil, was war denn die Bestimmung, das wurde nicht gesagt, und sie drehte sich um sich selber und hielt Ausschau nach der Urla, aber die war nicht mehr zu sehen, und plötzlich fürchtete sie, sie könnte hier alleine auf der Blumenwiese bleiben und ihren Körper nicht mehr finden, der irgendwo in einem Zelt in einer anderen Welt lag, und sie wusste nicht, wie sie zurückkommen sollte, stattdessen flog ihre Seele weiter umher, es gelang ihr, die Blumenwiese zu verlassen, nun aber befand sie sich in der Luft, irgendwo zwischen Sonne und Erde, und die Sonne brannte heiß, und die Erde lag tief unter ihr, und hin- und hergerissen zwischen den Möglichkeiten, sich auf die Erde zu stürzen udn zu zerschellen, oder in die Sonne zu fliegen und zu verbrennen, breitete sie die Arme aus und legte sich in die Sonnenstrahlen. „Liebe Sonne“ betete sie bei sich, „kannst du mir sagen, was meine Bestimmung ist?“ „Deine Bestimmung ist, zu brennen“ kam die Antwort prompt und sie merkte schon, wie ihre Fingerspitzen zu glühen anfingen und ein Schmerz durchbohrte sie, und sie drehte sich um und stürzte sich auf die Erde nieder, wo sie auf ein riesiges Wasser traf, in das sie eintauchte und das ihre Wunden löschte. Sie merkte, daß sie in dem Wasser schwimmen konnte und nicht zu atmen brauchte, und ihre Angst schwand allmählich einer wohligen Gewissheit, und sie sah die Augen der Wassergeister vor sich, die sie liebevoll ansahen. „Was ist meine Bestimmung?“ fragte sie erneut. „Du musst fließen wie das Wasser“, kam die prompte Antwort, aber das Wasser schäumte auf und warf sie in plötzlicher Wut zurück, und auf einmal war sie wieder in dem Zelt, zurückgerufen von dem nun verlangenden Zärtlichkeiten von Herme, der sich um ihren Rücken gelegt hatte und nun ihre kleinen Brüste umfasst hatte und die kleine Knospe streichelte. Dabei spürte sie, wie er sich von hinten an ihr rieb und sein Glied bewegte sich an ihrem Rücken auf und ab, und die fordernde Berührung an ihrer Brust war fast schon schmerzhaft, aber sie konnte sich nicht wehren, der Trank hatte sie schwach gemacht, und alles was sie tun konnte, war, da erinnerte sie den Ratschlag der Wassergeister, zu fließen, und so nahm sie seine Bewegung mit ihrer auf, schmiegte sich näher an ihn ran und machte es so wieder erträglich. Ross sang immer noch, Moha bewegte sich dazu und Urla saß mit geschlossenen Augen und lauschte. Jatta fragte sich, was Urla für eine Frau war, sie wirkte als hätte sie geheime Mächte und dachte, so möchte ich auch einmal werden, und auf einmal riss Urla die Augen auf und sah Jatta durchdringend an, und während sich ihre augen aneinanderhefteten, fühlte sich Herme, ermutigt durch die Aufnahme seiner Bewegung durch Jatta mit seiner Hand an ihren Schoß heran, und sie spürte ein mächtiges Ziehen, und ihr ganzer Körper spannte sich zusammen und sie verkrampfte sich um diese hand herum, aber die ganze Zeit sah sie Urla in die Augen, die langsam nickend aus unendlicher Entfernung zu ihr sprach, „du sollst brennen“ hörte sie, und während sie ihren Körper wieder entspannte und langsam der Flamme überließ, wanderte ihre Seele wieder hinauf in die Luft, wo sie auf Wolken tanzte und die Freiheit des Fliegens genoß.“Du bist frei“ flüsterte eine Stimme in ihr Ohr, „Deine Bestimmung ist es, frei zu sein“ und dann sah sie noch den Windgeist, der ihr zulächelte, und gleichzeitig spürte sie den Finger von Herme, der durch ihr Geschlecht griff und sie damit von einem wohligen Schauer zu dem nächsten führte. Darum wollten die Erwachsenen imemr Sex haben. Das war das Gefühl, nachdem sie so süchtig waren, und jetzt verstand Jatta es. Plötzlich spürte sie, wie Herme schneller und ruckhafte sich bewegte, und dann glitt es ihr warm am Rücken entlang hinunter, Herme atmete schneller und beruhigte sich dann. Seine Berührung verlor das Fordernde und bald darauf zog er sich zurück. Jatta sah wieder zur Urla hin, die nickte , ehe sie sich wieder Ross zuwandte, dessen gesang sich auf einmal wandelte. Die Melodie verlor sich in vielen Worten, die er rhythmisch hintereinander sprach, und Jatta wunderte sich, denn so hatte sie ihn noch nie singen gehört und auch nicht reden, normalerweise sprach Ross nicht viel, wie alle Neandertaler, aber nun war es, als wollte er die Sapiens imitieren, und gebannt von dieser Darbietung gelang es ihr nun, aus der Halbtraumwelt herauszutreten und ihr volles Bewusstsein wieder im Zelt zu versaammeln. Sie setzte sich auf.

 

 

5

 

Worme

 

Es war beleidigend und entwürdigend, herauskomplimentiert zu werden. Für den Neandertaler interessierte sich die alte Frau, aber nicht für ihn, der die ganze Welt durchwandert hatte und bestimmt mehr zu erzählen hatte als der einfältige Ross. Aber er war gewarnt worden. Schon Gure hatte gesagt, daß die Menschen hier anders seien als alle anderen, und man sie besser miede, wenn man nicht einen konkreten Grund hatte, hierhin zu gehen. „Was soll das denn für ein Grund sein?“ hatte er damals gefragt und Gure hatte gelacht. „Es gibt immer einen Grund. Manchmal weißt du nicht weiter, und dann sieht die ganze Sache anders aus. Die sprechen mit den Geistern“ fügte er noch hinzu, und damit war für Worme die Sache erledigt. Er wusste nicht, ob es die Geisterwelt wirklich gab. Ja, man hatte eine Traumgestalt, und so ganz abwegig war der Gedanke nicht, daß man im Schlaf in eine andere Welt ging, auf der anderen Seite hatte er noch nie mit einem Geist gesprochen, und sein ganzes Leben bestand daraus, im Wachen sich um die Dinge zu kümmern, die notwendig waren, und dazu gehörten Dinge wie Tanzen oder Flötespielen, Singen oder in Trance fallen nicht dazu. Er fand es müßig. Er fand auch seine Neugier letztlich müßig, mit der er nach unbekannten Wohnorten suchte, und so hatte er nichts gegen die Leute, die sich mit derlei Dingen beschäftigten, er lebte mit ihnen zusammen, aber er konnte nichts daran finden. Und als er von draußen hörte, wie Ross anfing zu singen, war er froh, nicht im Zelt geblieben zu sein. Herme war mit ihm ja noch rausgegangen, er hatte ihm ein Zelt gezeigt, wo er sich ausruhen konnte, und ist dann mit den kindern über den Platz gelaufen, zu den anderen Kindern, und seitdem waren Fera uznd Nenkwist verschwunden, und ihm blieb Zeit, sich hier umzusehen.

Die Siedlung sah anders aus als alles, was er bisher gesehen hatte. Allein wie die Zelte sorgfältig mit geflochtenen Zweigen stabilisiert waren, dann die sorgfältig gehegten brombeerhecken mit eingesteckten Trieben, die richtiggehende Wege flankierten. Er sah einen Mann an ihnen arbeiten, aber er verstand nicht, was er machte, und als er fragte merkte er, daß er die SPrache nicht gut verstehen konnte und ließ es sein. Später würde es antworten geben. Am erstaunlichsten war ja, daß auf dieser winzigen Insel eine ganze kleine Sippe offenbar leben konnte. Am erstaunlichsten aber war ein anderer Teil, er hatte gar keine Worte, das zu beschreiben, aber da war eine ganze kleine Wiese, auf der eine einzige Art Gras wuchs; er kannte das Gras, es war ein gutes, das man essen konnte, aber dann waren die grösste Fläche abgepflückt, richtiggehend geerntet, und daneben sah er ein Feld mit Rüben.

Später bekam er antworten, in den folgenden Tagen unterhielt sich die Urla viel mit ihm, und erklärte ihm, wie man auf einem kleinen Flecken Land eine ganze Gruppe Menscen ernähren konnte. „Es ist viel Arbeit“, sagte sie, „aber ansonsten nicht weiter kompliziert“. Das Gute pflegen, das Schlechte herausreissen, viel mehr ist es ja nicht!“ Worme blieb trotzdem skeptisch. War das etwa ein Leben, sich den ganzen Tag um das Wachsen von Pflanzen zu kümmern. „Warum macht ihr das denn? Warum zieht ihr nicht einfach der Nahrung hinterher? So machen es alle!“ Urla lachte. „Wir machen es hier halt nicht so wie alle.“ Wir wollen ungestört bleiben, und diese Insel ist ein guter Ort dafür. Aber die Jungen haben da keine Lust darauf. In ein paar jahren ist das hier alles schon wieder Vergangenheit. Das Leben geht weiter.“

Worme schwindelte angesichts der Aussichten, die ein solches Leben bot. Wenn ein kleiner Raum vielen Menschen Nahrung bieten konnte, dann war es nur eine Frage der Zeit, bis alle das so machen würden. Aber dabei irrte er sich. Denn in der Tat sollte es noch zwanzigtausend Jahre dauern, bis die Menschen tatsächlich mit der Landwirtschaft anfingen. Trotzdem ist es gut möglich, daß auch frühere Menschen durchaus so etwas wie Sesshaftigkeit entwickelten. Der Jäger und Sammler ist ja nicht notwendigerweise auch ein Nomade. Und die Landwirtschaft begann lange vor der Idee, auf abgebranntem Wald Einkorn auszusäen. Sie beginnt damit, Haselsträucher vor dem Überwuchs durch nutzärmere Pflanzen zu bewahren, sie beginnt mit der Hege von Apfelbäumen.

 

 

6

 

Der Grund, daß die Menschen damals keine Landwirtschaft betrieben, ist weniger darin zu suchen, daß sie es nicht konnten, als daß sie es nicht nötig hatten und nicht wollten. Unsere kleine Gemeinschaft aus dem 32. Jahrtausend vor Christus kannte Kunst und Spiritualität, sie waren in Hirnvolumen und Denktätigkeit wie wir, es waren Menschen wie wir, nur lebten sie in einer anderen zeit. Wahrscheinlich waren sie klüger. Heutzutage genügt es ja, in einem kleinen Spezialgebiet leidlich bescheid zu wissen, um sein Leben zu fristen, und wir sind weit entfernt von der Notwendigkeit einer umfassenden Weltenneugier, wie sie den frühen Menschen ausgemacht hat. Arbeitsteilung und Technik machen uns das Leben einfacher und entheben uns von den meisten alltäglichen Fragen, wie: Wozu ist das Kraut hier gut. Für uns steht das auf der Verpackung und fertig. Aber damals musste man schon wissen, was man essen kann, wo man es findet, wie man sich eine Hütte so zusammenbaut, daß sie nicht im ersten Sturm zusammenbricht, und all die kleinen Sporgen des Alltags, die wir heute so bequem mit kleinen Geldbeträgen lösen können, waren damals noch eine Frage von Fähigkeiten und Fertigkeiten, mithin von Intelligenz. Sicher, als Menschheit haben wir seitdem mehr Wissen akkumuliert, und die Menschheit hat sich weiterentwickelt, aber das einzelne Individuum, das muss heute längst nicht mehr so viel wissen, wie ein Individuum damals. Wenn er in seine Welt nicht so schöpferisch eingegriffen hat, wie wir heute, dann nicht, weil er nicht gewusst hätte, wieso Pflanzen wachsen und was man dafür tun muß, daß die an einer bestimmten Stelle gezielt wachsen. Die Möglichkeit als solche schien einfach irrelevant. Wenn alles seinen Platz hat, welchen Grund könnte es dann geben, in diese Ordnung einzugreifen? Wenn wir ein unordentliches Zimmer sehen, dann drängt es uns danach, Ordnung zu schaffen. Aber wenn wir ein ordentliches Zimmer sehen, dann bleibt da nichts zu tun. Und wenn sich der frühe Sapiens in seiner Natur so wohl gefühlt hat wie in einem aufgeräumten Zimmer, was hätte er darin aufräumen sollen?

Der Mensch, von dem wir hier reden, hat ohne Zweifel unsere Denkkapazitäten, und sein Innenleben war mit Sicherheit nicht weniger komplex als das unsere. Und doch hatte er einen Zivilisationsschritt noch nicht vollzogen, den gedanken, sich die Erde untertan zu machen. Er war noch nackt (er warf sich Felle um, die er mit Knoten von Flechtwerk zusammenhielt, aber das war nur ein Wärmeschutz und hatte keine soziale Bedeutung.) Es war ein Mensch im paradiesischen Urzustand, und er hätte so noch lange auf der Erde leben können, wenn nicht die Menschen irgendwann angefangen hätten, anders zu denken. Aber jetzt war noch nicht die Zeit. Mag sein, das eine verrückte Urla und ihre Sippe schonmal ein Experiment mit Haselsträuchern, Apfelbäumen und Einkornfeldern machten, es gibt tatsächlich keine Hinweise darauf. Aber wozu auch Hinweise, ich würde eh keiner Theorie Glauben schenken, die sich beweisen ließe. Die Welt entspringt aus der Idee, nicht umgekehrt, und wenn die Idee der Menschen damals war, das die Natur die festgefügte dynamische Ordnung war, dann würden sie nichts daran ändern, um nicht das Chaos auf sich herabzubeschwören, das unweigerlich kommen mußte, versuchte man, der Natur den eigenen Willen aufzuzwingen. Viel wichtiger war es, die Natur zu verstehen, um in ihre Kreisläufe sich einzuschmiegen, um mühelos das Notwendige von ihr geschenkt zu bekommen, anstatt mit harter Arbeit sich ein karges Brot abzutrotzen. Es gab noch keine Arbeit. Es fehlte also nicht am Wissen über die Kreisläufe des Lebens, es fehlte am Bewusstsein dafür, das Arbeit möglich ist. Und das ist natürlich ein paradiesischer Zustand: Die volle Bandbreite menschlicher Ausdrucksweisen und Gefühle, aber keine Arbeit die zu tun ist. Ob die Menschheit seitdem sich fortentwickelt hat, ist unbestritten, aber vielleicht ist sie auch einfach nur fort von sich selber gegangen, auf einem Irrpfad, der zu nichts Gutem führt, vielleicth aber ist auch unsere Schriftkultur und die künstliceh Intelligenz der digitalen Welten das, was zu schöpfen war, und der Anfang ist nur das, wo es angefangen hat. Wahrscheinlich stimmt beides, und der Fortschritt findet seine Bestimmung erst in dem Moment, wo auch die Arbeit wieder überwunden wird und ein Mensch den Tag voller Wunder in einer Welt verbringen kann, die sich eine wieder natürliche Ordnung gegeben hat.

 

 

7

 

Natürlich sollte so eine Geschichte auch den wissbaren Fakten folgen und nicht freimütig fabulieren, wo Evidenzen etwas anderes nahelegen. Aber die literarische Geschichte folgt anderen Koordinaten als die historische, und all zu oft vergessen wir unter den mageren Hinweisen, die wir auf die prähistorischen Zeiten haben, daß diese nur die zufälligen Überreste sind, die die Zeit überdauert haben, und keineswegs repräsentativ das damalige Leben beschreiben. Und wenn die Wissenschaft auch erstaunliche Details aus ihren Hinweisen herauslesen kann, so kann sie doch nie mehr als einen Rahmen beschreiben, innerhalb dessen das Leben damals stattgefunden haben muss, das Leben selber wird von ihr nicht beschrieben. Das macht die Literatur in freier Fabulierkunst.

Auch ist ein Literat ja nicht Spezialist auf einem Gebiet. Aufgabe des Literaten ist es, die Geschichte der Historiker einzuordnen in den größeren Zusammenhang, und dazu darf er nciht nur eine geschichte mit all ihren einzelheiten kennen, dafür muss er eine Ahnung haben von allen Geschichten, die das Gesamtbild beeinflussen könnten. Er schwirrt wie eine Biene umher, beliest sich über dies und über jenes, sucht sich den Nektar der Bücher, die ihn gerade interessieren, aber verweilt nicht länger, als bis er gesättigt ist und sich seine Neugier ein neues Thema sucht. Der Literat ist, im Gegensatz zum Historiker, unstet. Wer sich für die genauen Details des Lebens der Neandertaler interessiert, der kann sich nicht auf meine hübsch aufbereitete Erzählung verlassen, der guckt im Internet nach, sucht sich die Fachliteratur heraus und kann bald unterscheiden zwischen den Abschlagtechniken des Acheuleen und Mousterien, erfährt, wie die Schädelformen von habilis, rudolfensis, neandertaler und sapiens sich unterscheiden, sortiert villeicht die Fundplätze nach Alter und Ort, lernt die Bezeichnungen für die verschieden kategorisierten Kulturstufen, ehe man auf die aktuell offenen Fragen des akademischen Diskurses trifft, die dann innerhalb der universitären Zirkel verhandelt werden. Wo man hinguckt ist es interessant, und je genauer man hinguckt, desto mehr gibt es zu lernen.

Mein eigenes Interesse ist anders gelagert. Ausgehend von der Ursprungsfrage, woher wir kommen - wobei das „wir“ verschiedenste Gruppen umfasst (meine Familie, die Geschichte meines Wohnortes, die Geschichte meiner gegend, meines Landes, meines Volkes, wie ist das Volk überhaupt entstanden) - und mehr noch als die einfache historische EInordnung, wie sind die Fragen entstanden, die uns interessieren, woher kommen unsere Wertvorstellungen, unsere Sehnsüchte, also die Geschichte der Religionen, der Politik, der Liebe, der Sprache, kurz: alles. Na, fast alles. Kochbücher interessieren mich nicht, und auf der anderen Seite ist es fast schon schwer, in einer durchschnittlichen Buchhandlung Bücher zu finden, die mein Interesse wecken. Es ist nicht leicht, Bücher zu finden, weil es nicht nur darauf ankommt, das sie interessant sind, sondern auch darauf, das sie in zur Entwicklung des persönlichen Interesses passen. Und das heisst, immer dem Augenwinkel zu folgen, nie geradeaus zu gehen, denn das gerade Interesse rückt das wissbare in den Vordergrund und erschöpft sich bald in Fakten und Kategorien. Das Interesse ist ein kreisförmiger Prozess, es kreist um ein Thema und lässt sich von Aspekten forttragen, um um etwas anderes zu kreisen, es umkreist im besten Fall die ganze Welt und erkennt so, nahezu unberührt von den überflüssigen Fakten, die Zusammenhänge des Ganzen. Das ist die Aufgabe des Literaten: Die Kreise erkennbar zu machen, aus denen die Welt besteht, und dazu braucht er Abstand.

Deswegen sind meine Beschreibungen notwendigerweise ungenau. Auch führt mich die Geschichte in Bereiche, zu denen ich nicht recherchiert habe, und spekuliere. Ich werde in einem späteren Arbeitsschritt die dadurch entstandenen Fehler bis zu einem gewissen Grad korrigieren können, aber die Kreise der Geschichte sind natürlich wichtiger als die Genauigkeit der Fakten. Wer sich informieren will, der braucht keine Prosa. Die Literatur kann Interesse wecken und Kreise aufzeigen, aber sie wird armselig, wenn sie sich auf allzuviele Fakten beruft. Ein Wissenschaftler darf nur glauben, was er beweisen kann, ein Literat verliert angesichts des Beweises das Interesse, und in diesem Sinne ist der Satz zu verstehen: Ich würde nie einer Theorie glauben, die sich beweisen lässt.

 

 

8

 

Die kleine Gemeinschaft verbrachte den Winter auf der Insel und staunte angesichts des Nahrungsreichtums, den die neuen Methoden hervorbrachten, waren aber auch höchst irritiert über die Arbeiten, die täglich zu erledigen waren. „Warum machen die das?“ fragte Ross Moha. Warum nicht einfach weiterziehen, das wäre einfacher!“ Die beiden verstanden sich gut, nicht nur als Mann und Frau, auch sprachlich hatten im Laufe der Jahre Möglichkeiten gefunden. Auf der Grundlage des quäkenden Neandertalisch hatten sie angefangen, mehr und mehr moderne Wörter dazuzunehmen, und mittlerweile verstand Ross auch einen guten Teil der modernen Sprache, vorausgesetzt sie wurde explizit langsam gesprochen, und mehr und mehr fing er an, sie auch zu benutzen. Die Kinder taten das sowieso. Sie waren zweisprachig aufgewachsen und redeten ein munteres Gemisch aus Neandertalisch und Sapiensisch. Wobei das Neandertalische, das keine Zeitformen kannte oft benutzt wurde, um längere Erklärungen abzukürzen. Die Neandertalsprache war im Grunde effektiver, mit ihr konnte das Wesentliche in wenigen Worten gesagt werden, aber sie war völlig ungeeignet zum Plaudern. Ross verstand immer noch nicht, was es alles immer zu beplaudern gab, und warum die Sapiens unentwegt miteinander redeten, aber er war auch fasziniert von der neuen Sprache, nachdem er er erstmal einige grundlegende Prinzipien verstanden hatte, und übte sich in den neuen Ausdrucksweisen.

Dabei war er mittlerweile schon alt. Sehr alt. Er hatte einmal versucht, mit den neuartigen Zählweisen sie Zahl seiner Sommer zu bestimmen, und obwohl die Erinnerung die einzelnen Sommer kaum auseinanderhalten kann, sind doch die wachsenden Kinder ein guter Anhaltspunkt, und er fing an zu behaupten, daß er zwei mal zwanzig Jahre gesehen habe. Er war schon alt gewesen, als er Moha kennengelernt hatte, und mittlerweile war Jatta schon groß geworden. Es war sehr schwer gewesen für ihn, im Zelt mitanzusehen, wie sich der Junge an sie schmiegte, er hatte den Schutzgedanken ihr gegenüber noch nicht aufgegeben, und doch sah er, daß sie jetzt zur Frau wurde. Hier auf der Insel war die Veränderung beinahe täglich zu sehen, wie sie Fleisch auf die Knochen bekam, wie sich ihre Brüste ausformten, wie sie kräftig wurde. Der Junge hatte sie seitdem Zelt nicht mehr angefasst und Jatta sprach nicht darüber. Zwischen ihnen schien eine Art Hassliebe zu bestehen, auch das ein neues Wort, das Ross aus dem Sapiensisch für sich übernommen hatte. Eine ambivalente Haltung, ein sowohl als auch, Zweifel und Spekulationen, dafür war die neue Sprache gut. Hassliebe. Sie betrachteten sich verstohlen aus den Augenwinkeln, aber wenn eine Situation sie zusammenbrachte, endete die bald im Streit. Jeder wünschte sich, daß die beiden wieder zusammenfänden, aber das schien mit jedem Tag aussichtsloser.

„warum nimmst du ihn nicht“ fragte Ross eines Tages jatte geradeheraus. „Das ist doch klar, Pa!“ sagte sie, „das musst du doch sehen! Der behandelt mich immer von oben herab, der hält sich für etwas besseres!“ Jatta war längst über den Zeitpunkt hinaus, ob dieser Zurückweisung traurig zu sein. „Das Arsch hält uns Neandertaler für dumm und niederwertig.“ Ross wusste, daß das nicht stimmte. Herme war ein interessierter und aufgeschlossener junger Mann, der sich sehr für die Neandertaler und ihre Eigenarten interessierte. Anfangs hatte er mit Ross nicht reden können, aber die beiden Männer rauften sich zusammen und Wort für Wort lernten sie voneinander. „Das muss was anderes sein“ sagte er deshalb nur, und nahm sich bei der nächsten gelegenheit Herme vor. „Warum nimmst du denn Jatta nicht?“ Aber als der Junge keine klare Antwort geben konnte, begann Ross zu verstehen. „Sie ist so anders!“ war alles, was Herme hervorbrachte. Er fürchtete sich vor ihr. Jatta war stärker als er, obwohl sie jünger war, und mit einenmal sah Ross Jatta durch die Augen des jungen mannes, und er begriff, daß sie seiner Schönheitsvorstellung widersprach. Er fand die Neandertaler hässlich, und der Gedanke, mit einer zusammenzukommen, löste in ihm einen Ekel aus, die Vorstellung einer wiedernatürlichen Handlungsweise, und Ross war so empört von diesem Gedanken, dass er tagelang nicht mit Herme sprach, aber dann sprach er mit Moha darüber und sie vertraute ihm etwas an: Er sei ja hässlich, sagte sie, aber, das animalische in ihm habe sie schon immer schwach gemacht. „Abgesehen davon, daß ich dich nicht ausgesucht habe, sondern das Schicksal uns zusammengebracht hat, war ich froh, einen Mann zu finden, der richtig zupacken kann. Guck Dir doch Herme an, oder Worme, das sind nicht Männer wie du. Die denken zuviel. Die würden zweifeln beim Sex.“ Sie jedenfalls habe nie mehr das Bedürfnis gehabt, mit einem anderen Mann zusammenzuliegen, seit sie Ross kannte. „Aber du bist das schönste Wesen, das ich je gesehen habe“ sagte er, und in dem Moment begriff er, daß es das war, was Herme an Jatta fehlte. Die zarte Feingliedrigkeit, die Eleganz, die Sanftheit. Und er begriff nicht, daß das Schicksal nicht nach Vorlieben fragte. Man hatte zu nehmen, was das Schicksal für einen vorsah, und damit haderte er. Aber auch das war eine Eigenart der Sapiens: Sie zweifelten, sie zögerten, sie zauderten. Sie waren nicht zufrieden mit dem was war, sondern suchten nach dem, was sein könnte. Sie lebten nicht in der Welt, sie lebten in ihrer Vorstellung.

 

 

9

 

Jatta war zwar beleidigt, gekränkt und auch - was sie bei jeder Gelegenheit vehement abstritt, unglücklich verliebt, ihre Lebensfreude ließ sie sich davon indes nicht nehmen. Anstatt um herme herumzuscharwenzeln und sich weitere Enttäuschungen zuzumuten, , setzte sie alles daran, zu lernen, was es hier zu lernen gab. Und das konnte sie am besten von der Urla, die im Gegenzug froh war, jemanden zu haben, dem sie ihr Wissen anvertrauen konnte. Urla wusste, daß ihre Sippe bald überaltern würde und sich auflösen, denn es war ihnen nicht gelungen, die Jungen bei sich zu halten, allesamt gedankenlose, selbstverliebte junge Menschen, die sich keinem Regiment unterordnen wollten, und vor allem es nicht einsahen, zu arbeiten. Und ohne Arbeit funktionierte die Landwirtschaft nicht, und ohne Landwirtschaft funktionierte kein Leben auf der kleinen Insel. Dabei war die Landwirtschaft gar nicht ihr Thema gewesen, das war das Werk von Hagard, ihrem Mann, und als sie jung waren und glaubten, sie könnten die Welt verändern, da hatten sie sich zusammengetan mit ihren Freunden, um einen ganz neuen Lebensstil zu leben. Sie hatten nicht gewusst, wieviel Arbeit das letztendlich bedeuten würde, aber interessant und spannend war es allemal. Urla hingegen war vom herzen her eine Magierin. Sie sammelte Kräuter und Pilze, um mit der Traumwelt zu sprechen, und sie sammelte Erzählungen. Früher war sie im Sommer lange unterwegs gewesen, um andere Stämme kennenzulernen, jetzt überließ sie das den jungen Jägern, aber immerhin hatte sie sich einen solchen namen gemacht, das immer wieder Wanderer zu ihnen kamen, um von der Weisheit der Urla zu profitieren, und im Gegenzug erfuhr Urla so die ganzen geschichten, aus denen ihre Weisheit bestand. Und die erzählte sie nun Jatta weiter. Dabei hatte sie es so angelegt, daß in den geschichten, die sie erzählte, Heilmethoden vorkamen, die zu lernen waren. Und so entwickelte sich eine Freundschaft zwischen den beiden Frauen, der jungen Neandertalerin und der Alten Cromagnon.

Was Jatta aber am meisten interessierte, das war die Traumwelt, denn von dort erhoffte sie sich Erkenntnisse über die Herkunft der Menschen, über ihr Schicksal, und woher es kam, das die Menschen sprachen, und woher es kam, das sie Feuer benutzten, und woher es kam, daß es eine Welt des Geistes gab, die kein Körper betreten konnte, und die doch untrennbar mit den Körpern verbunden blieb. Ihre Eltern hatten auf Fragen dieser Art keine Antworten. „Es war schon immer so, wie es ist.“ . „Aber die Welt wandelt sich doch. Dann war sie doch mal anders!“ „Die Welt wandelt sich jetzt, weil eine große Unordnung entstanden ist. Aber vorher war alles immer gleich.“ Das war die Erklärung ihres Vaters. Und ihre Mutter sagte: „Ein Kreis hat keinen Anfang und kein Ende. Die Bewegung ist um ihrer selbst willen da, aber sie führt nirgendwohin.“

Aber gab es nicht eine Geschichte? Gab es nicht die alten Menschen und die neuen Menschen, und ein gestern und ein morgen? Die Urla sagte das auch. Gestern säten wir die Pflanze, morgen können wir sie ernten, aber das ist höhere Magie, davon verstehen die einfachen Menschen nichts. Alles was ist, war einmal nicht, und bevor es die Menschen gab, gab es vielleicht die Welt trotzdem schon.“

„Wie ist denn die Sprache entstanden, woher kommen denn die Worte? Waren die schon immer da?“ - „Am Anfang war das Wort, denn vor dem Wort gibt es keine Zeit, und vor der Zeit gibt es nichts, das wird und vergeht, denn es gibt nur eine Gegenwart, und die wäre ewig.“

„Und wie ist das Wort entstanden?“ Urla lachte. „Welches Wort?“ Es gibt so viele davon. Und alle haben ihren Ursprung!“ Da sagte die Urla: Das erste Wort ist Feuer, denn das Feuer ist das erste Mysterium. Nur wer am Feuer sitzt, kann hoffen, weise zu werden, denn im Feuer leben die Geister, und in den dunklen Wäldern ist nur das Niflhejm zuhause, das große Dunkel, was nichts weiß.“

Das Feuer ist der Ursprung aller Magie und der Ursprung des bewussten Denkens. Und es besänftigt die animalische Gier, denn die im Feuer gebrannte Nahrung macht satt. Und der satte und zufriedene Mensch findet mehr Worte, die im geist des Feuers wohnen. und so schafft er sich seine Geisteswelt. Und langsam beginnt er zu begreifen, was er tut. Seine handlungen lösen sich vom Instinkt und werden bewusst.

„Es muss andere Menschen vor uns gegeben haben, die konnten nur ein ganz bisschen sprechen, und dann wurden sie zu den alten Menschen, und nun sind die neuen Menschen da, und einmal wird es noch neuere Menschen geben..“

„Das kann sein“, sagte die Urla, und fügte hinzu: „Weißt du, einmal kam ein mann hierher, der war weit gereist, und der erzählte von einer Höhle, wo das Gedächtnis der Menschen aufbewahrt sei. Er selber hatte sie nicht gesehen, aber er wusste, daß es sie gab.!

„Wo ist diese Höhle“ fragte Jatte begierig, denn auf einmal wusste, sie,w as sie zu tun hatte.“

„Das weiß ich nicht“, sagte Urla, aber der Mann, der kam aus dem Westen.“

„Dann werde ich nach Westen gehen“ sagte Jatta.

 

 

10

 

„Dir fehlt noch eine Zeremonie“ sagte die Urla im Frühling. Als du hierherkamst, da hast du eine Einweisung erhalten, udn du hast das Feuer, das Wasser und die Luft kennengelernt. Aber die fehlt noch die Erde, und wenn du die nicht kennst, nützt dir die Reise nichts.“

Jatta sagte nichts. Sie wusste sofort, was das für eine Zeremonie sein sollte. In ihrer Sippe hatten sie auch immer den Beginn des Frühlings mit einem ausschweifenden Fest gefeiert. Die alte Kerr hatte eine bittere Suppe gekocht und die Erwachsenen waren ganz unaussstehlich den Rest des Tages. und die Nacht. Es waren furchtbare Feste, in denen die Kinder sich mit Fellen bewaffnet in den Wald verkrochen, weil die Zelte von berauschten Erwachsenen besetzt wurden. Trotzdem wusste sie auch, was da passiert.

„Freust du dich nicht? Du wirst jetzt erwachsen!“

„Und wenn ich schwanger werde? Dann kann ich nicht reisen.“

„Ich gebe dir etwas, das das verhindert. Wenn du von nun an jeden Tag Schattenkraut isst, wird sich kein Kind in dir bilden können.“

„Schattenkraut! Das ist ja eklig.“

„Naja, es hilft nichts. Freu dich, das wird eine tolle Erfahrung.“

„Das glaube ich nicht. Herme kann mich nicht leiden, oder an wen hast du sonst gefacht?“

„Es wird hier ein Fest geben. Die Jungen werden alle kommen, du hast die freie Auswahl, obwohl ich dir Herme empfehlen würde.“

„Der mich verabscheut und mir das auch zu verstehen gibt.“

„Ach, Jatta, im Grunde liebt er dich, aber er gesteht sich das nicht ein, und deswegen ist er abscheulich zu dir. Ich gebe dir diese Nacht mit ihm, denn im Rausch wird er seine Vorurteile vergessen. Und am nächsten Tag geht ihr los.“

„Wir gehen? ich soll mit Herme gehen?“

„Das ist der Plan. Der arme Junge weiß auch noch nichts davon, aber ich werde es ihm schon verklickern. Er muß die Welt kennenlernen, und er muss es mit Dir zusammen tun. Ihr sollt zur Höhle gehen, weil ihr diejenigen seid, für die das eine Bedeutung hat.“

„Ich dachte, ich gehe mit Ross und Moha und Worme.“

„Ross ist alt, der geht nirgendwo mehr hin. Deswegen wird auch Moha hierbleiben. Und Worme hindert Euch mehr, als das er nützt. Er kennt nur die Wege, aber er hat kein Ziel. Er weiß nicht, wann er rasten muss, um voran zu kommen. Ihr werdet Jahre brauchen, meine Liebe, und ihr habt wenig Hinweise, wohin ihr gehen müsst.“

„Nach Westen.“

„Der Westen ist groß. Allerdings habe ich auch gehört, daß er nicht unendlich ist. Angeblich gibt es ein Meer, in dem die Sonne am Abend versinkt.“

„Das erklärt, warum sie abends nicht die Welt in Brand steckt. Das habe ich mich schon immer gefragt. Wir finden das Meer, und dann finden wir auch die Höhle, das muß so sein.“

„Warum?“

Die Höhle und das Meer sind zwei Seiten desselben Mysteriums. Wer die Höhle verstehen will, muß das Meer kennen.“

„Das ist deine Interpretation. Vielleicht ist das auch schon deine Vision. Also gut, gehe zum Meer und dann zur Höhle. Das ist deine Aufgabe.“

„Zusammen mit Herme?“

„Zusammen mit ihm. Ich weiß nicht, ob er Dich lieben wird, aber er wird seine Aufgabe erfüllen. Ihn interessiert das Mysterium ebenso wie dich. Ihr werdet zusammen gehen.“

„Und ist dafür die Nacht der Ostara wirklich notwendig?“

„Unbedingt. Du kannst nicht als Kind auf die Reise gehen. Iss Dein Schattenkraut. Und später , auf der Reise, musst Du Deine Blume im Bauch spüren, die sich im Rhythmus des Mondes öffnet und schließt. Du darfst sie keinem mann öffnen, wenn Du nicht schwanger werden willst, das ist wichtig. Wirst du schwanger, ist deine Reise vorbei.“ Und sie erklärte ihr, worauf sie achten musste, welche körperlichen Signale was bedeuteten, und jata konnte alles nachvollziehen, denn nach ihrem Empfang im herbst hatte sie bald ihre Tage gekriegt und wusste nun, daß sie eine Frau war, und ihren Körper kannte jede Neandertalerin gut genug, um zu wissen, was wann passierte. Die Cromagnonfrauen schienen das weniger gut zu können, sie wurden oft schwanger ohne es zu wollen, aber die Neandertalerinnen wussten, was sie taten. Nur eine letzte Frage blieb noch.

„Du, Urla?“

„Ja - „

„Ich verstehe nicht - hindert mich das Schattenkraut denn nicht daran, die Erde wahrzunehmen, so wie sie ist? Kann ich die Erde gleichzeitig unterdrücken und erleben?“

„Deine Frage ist berechtigt. Aber wenn du dich der Erde voll hingibst, wirst du zu ihrem Teil, und als Gebärende kannst du nicht mehr dein Ziel verfolgen. Du sollst die Erde nur kennenlernen, nicht zu ihr werden.“

„Wie kann man etwas kennenlernen, ohne es zu werden?“

 

 

11

 

Das war das Problem der Cromagnons. Manchmal reichte es ihnen, sich etwas nur vorzustellen, anstatt die Sache wirklich zu machen. Ross musste immer wieder staunen, wie genau sie ihre Pläne machten. Hagard erklärte ihm wieder und wieder genau, wie er sich die Landwirtschaft vorstellte. Die Brombeerhecken, die Haselnusshaine, die Obstbaumwiesen, die Grasfelder. Wenn man ihm zuhörte, dann dachte man, daß alles sei praktisch schon da, aber wenn man dann hinsah, dann sah man erstmal garnichts. Die hecke, durch die wild ein Weg geschlagen war, die Obstbäume mang dem meterhohen Gras, Wildgras allerdings, nicht das gute, Ährenreiche, das Hagard Korn nannte, und jeden Tag mühten sie sich, Ordnung in das Gestrüpp zu bringen, was im wesentliche hieß, unerwünschte Pflanzen herauszureißen. Eine Arbeit, die Ross nicht schwerfiel, nur wunderte er sich, wieso sie sich die Mühe machen sollten. Die Pflanzen wuchsen am Besten, wenn man sie in Ruhe ließ, das wußte jeder, und es hatte schon etwas absurdes, die Welt nach seinen eigenen Vorstellungen formen zu wollen, fast, als wäre man nicht Teil dieser Welt. Trotzdem verstand er sich gut mit Hagard, sie hatten beide ein nun schon fortgeschrittenes Alter, fühlten sich aber noch gut und voller Schaffensdrang und so arbeiteten sie jeden Tag an Hagards Phantasiegarten. Ein Positives hatte die ganze Geschichte, das gab Ross freimütig zu. Die Hütten, in denen sie hausten, waren in den Jahren zu imposanten Wohnungen angewachsen. Richtig behaglich hatten sie es sich gemacht, der WIndschutz nicht nur ein gespanntes Fell, das im Wind wegriss, sondern richtige Wände, mit Zweigen und Lehm zusammengehaltene Wälle, die die Wärme des Feuers speicherten und einen Schutz vor den Elementen boten, wie Ross ihn nie zuvor gekannt hatte. Kein Wunder, daß man drinnen, in der behaglichen Wärme, schon mal ins Träumen geraten konnte und die Traumwelt der eigentlichen Welt vorzog. Dabei verstand Ross langsam auch, dass es genau das war, was die Cromagnons ihnen voraus hatten: Diese ständige Suche nach etwas neuem, und sei es auch so absurd wie die Landwirtschaft. Die Cromagnons probierten einfach alles aus, und auch wenn sie damit im Groß0en und Ganzen auch nicht mehr Erfolog hatten, es machte sie attraktiv, und dagegen konnten die alten neandertalgessellschaften nicht mithalten. EInfach nur leben, einfach nur Überleben, war eben nicht mehr genug, wenn es Träume gab, die zu verwirklichen waren, wenn es Pläne gab, die nichts genaues, aber Großes versprachen.. Es muß wohl eine Ausnahme gewesen sein, daß eine Cromagnon Frau wie Moha, sich auf ihn eingelassen hatte, dabei war er selbstbewusst genug, um zu wissen, was sie an ihm hatte. Die Cromagnons waren nicht nur schwach, sie waren auch ungeschickt, das hatte er immer wieder festgestellt. Am merkwürdigsten waren ihre Hände mit den verkürzten Außengliedern. Ihr Daumen war zu kurz und die Außenfinger benutzten sie kaum, sie taten sich schwer mit allen Dingen, und nur durch Fleiß glichen sie aus, was ihnen an Geschick fehlte. Aber dieser Fleiß war schier unglaublich. Immer gab es iurgendetwas zu tun, und hätte man mit Hagard nicht auch lachen können, Ross hätte sich einfach an den Fluß gesetzt, um ein paar Fische zu fangen, und gut wäre es. Wozu soll man sich denn ständig herumplacken?

 

Für Hagard stellte sich diese Frage gar nicht, Er war fasziniert von der Arbeitskraft des neandertalers und seinem Geschick, und dachte, wenn er nur diese Hände seine ganzes Leben gehabt hätte, er hätte seinen Garten schon so hingekriegt, das die Jungen geblieben wären. Aber ein Obstbaum wurde nunmal nicht in einem Leben groß, und sie waren alle viel zu ungeduldig. Und die ganze harte Arbeit, manchmal hätte er sich die auch lieber gespart. Aber er blieb dabei, weil er nichts anderes zu tun hatte, und die Marotten seiner Urla, die fanden nicht sein Interesse. Er fand keinen Gefallen daran, ihre Tränke zu probieren, die machten ihn nur fahrig und unkonzentriert, aber sie behauptete, dann mit den Geistern reden zu können. Dabei waren die Geister nur Traumgestalten, die man sich ausdenken konnte. Für Hagard hatten die nichts reales. Da war er sich mit Worme einig, aber lieber arbeitete er mit Ross zusammen, da blieb auch etwas zum lachen, obwohl Ross, seine eigene Vorstellung von den Dingen hatte:

 

 

12

 

Das Fest, das später der Ostara gewidmet werden sollte, und noch später der Auferstehung des Jesus, war auch den frühen Menschen schon bekannt. Jedes Jahr zum ersten Frühjahrsmond kamen sie zusammen, um das neue Jahr zu feiern, sich bei den Geistern bedanken, die sie über den Winter gebracht hatten, und sie zu neuem und fröhlichem Wachstum zu animieren. Allen war klar, auch wenn die Vorräte gereicht hatten, würde der Frühling nicht kommen, gäbe es ein Problem.

Aber der Frühling war da, und mit ihm kamen die Gäste. Der Mond war noch eine junge SIchel, da kamen das erste Pärchen, und , und in den folgenden Tagen trafen sie alle ein, einzeln zunächst, dann unmittelbar vor dem Fest, ganze Sippen. Sogar Neandertaler waren dabei, die sich zwanglos unters Volk mischten. Sie alle hatten den Rest ihrer Wintervorräte mitgebracht, aber das Dörrfleisch und die armseligen Nüsse hatten sie den ganzen Winter gegessen, und eine Lust war das nicht mehr. Ross hatte sich gefreut auf den frischen Löwenzahn, den Giersch und den Bärlauch, denn im frühen Frühling war das die Nahrung, die frische Kraft brachte, aber nach einigen Tagen war auf der Insel davon nichts mehr da, und er sehnte sich nach der Freiheit des Herumwanderns in den Wäldern, und fühlte sich zum ersten Mal auf der Insel eingesperrt.

Das Frühlingsfest war allerdings nie ein Fest gewesen, bei dem man satt war. Es war ein Fest der Verausgabung gewesen, man feierte, obwohl man hungrig war, man betäubte den Hunger mit den magischen Tränken der weisen Frauen und tanzte und musizierte, und in den noch eisigen Nächten kuschelte man sich aneinander. Die jungen Frauen waren frei, zu wählen, mit wem sie gingen, und kein Mann hätte ihre Wahl angezweifelt. Natürlich gab es Päärchen, die zusammenblieben, komme was wolle, aber wer sich zum großen Feuer begab und dort tanzte, der durfte sich nicht zurückhalten. Es war Osternd, das Fest der Fruchtbarkeit, der Freude und der Sinnlichkeit. Hier wurden Kinder gezeugt und Sippen begründet. Es war an Ostern, das die Frauen mit ihrer Sippe kamen und mit einer anderen gingen. Sich hier zu verweigern beschwor den Geist der Unfruchtbarkeit hinauf, ein schlechtes Jahr, zu viel Regen, zu viel Sonne, heftige Stürme, Krankheiten der Erde.

Auch Ross und Moha feierten mit. Als sie in ihrer Sippe noch Ostern mit den bekannten Gesichtern gefeiert hatten, da hätte es Komplikationen gegeben, sich auf andere Partner, und sei es nur für die Osternacht, sich einzulassen, aber nun waren sie sich beide einig, daß sie es den Göttern schuldig waren, die Fruchtbarkeit des Lebens zu feiern. „Götter“, das war ein Begriff, den Moha manchmal gebrauchte. Man wusste ja, das alles was ist, die ganze Welt von Geistern beseelt ist. Aber man konnte den Geistern auch Namen geben, so tun, als seien sie wie die Menschen, dann waren sie leichter zu fassen, und Geister mit Namen, das waren dann Götter. Vermenschlichte Bilder von Geistern, sozusagen. Dann konnte man sich vorstellen, wie die Götter in ihrer Welt sich trafen und feierten und tanzten, während die Menschen in ihrer Welt sich feierten udn trafen und tanzen. Das war natürlich Unsinn, aber einer, der Begriffe schuf, mit denen man reden konnte.

Und um die Geistergötter milde zu stimmen, um ein Jahr der rechten Harmonie zu erbitten, ein Jahr, in dem die Tiere gedeihen und fruchtbar sind, in dem die Jagd gelingt und das Obst üppig wächst, für ein Jahr, in dem sich die richtigen Kreise erfüllen, darum zu bitten, war das bewährte Mittel seit Jahrtausenden, die orgiastische Feier zum Frühjahrsvollmond.

 

13

 

Das war allerdings nur die eine Hälfte der Wahrheit. Die andere Hälfte war, daß Ross sich mit Moha nicht mehr allzuviel zu sagen hatte, seit sie in diesem neuen Dorf waren. Ross hielt sich an Hagard und Urta, während Moha die Gesellschaft der anderen Frauen vorzog, die sich um die kinder kümemrten. Alte Frauen, wie Ross abschätzig dachte. Offenbar war die insel der Ort, zu dem man Kinder brachte, um die niemand sich kümmern konnte oder wollte. Kinder, deren Mütter gestorben waren. Es gab keine jungen Erwachsenen in dem merkwürdigen Dorf, es gab die Kinder und die Alten, und es gab Herme. Die Jungen hielt hier nichts. Die Alten aber wurden unterstützt von den Sippen, im Gegenzug für medizinischen und geistigen Rat, und für die Herberge dieser Kinder. Unter den Frauen fand Moha zwei interessante Freundinnen, wie unter den Kindern gelehrige Schüler, mit denen sie tanzen konnte. Hagard und Urla hingegen beobachtete sie mit Argwohn, der von den Frauen durchaus genährt wurde.

 

Für Ross hingegen waren die Gerüchte und Heimlichkeiten, die so genährt wurden, ganz unerträglich. Wenn sie mit der Führung nicht einverstanden waren, konnten sie doch jemanden neuen wählen, Urla und Hagard waren sowieso eigentlich schon jenseits des Alters, indem man eine Sippe führen konnte. Als er hagard darauf ansprach, lachte der nur: „Ja, unzufrieden sind sie immer, aber keine weiß wirklich, wie es geht. Deswegen machen wir weiter. Wir sind halt eine verlorene Gemeinschaft, die Jungen interessiert das nicht , wie wir leben.“

„Und das Getratsche stöt euch nciht?“

„Doch schon, aber das ist halt so.“

 

Das liegt wohl an der Arbeit, dachte Ross, und damit ließ er es bewenden. Das Fest stand an, aber Urla ließ es sich nicht nehmen, an zwei Tagen eine kleine Schulung zu geben, für den, der es hören wollte. Sie erzählte Geschichten von Kräutern und Heilungen und ermahnte die Jungen, nie zu vergessen, daß die sichtbare Welt nur die eine Hälfte des Lebens sei, daß aber die Träume und die Geister die andere regierten, und das man immer gewahr bleiben solle, diese Geister nicht zu verärgern, um kein Unglück auf sich und seine Sippe zu bringen. Soweit, so vorhersehbar, aber am zweiten Tag, als sie schon ausgeguckt hatte, wer ein tieferes Interesse verfolgte, lud sie die zu sich in die Hütte, drei Frauen und zwei Männer sowie Jatta und Herme.

„Ihr“ sagte sie, „werdet nach der Feier aufbrechen, die Höhlen im Westen zu suchen. Die Geistwelt will, daß wir mit ihr in Kontakt treten, und das ist der Ort, an dem das möglich ist. Ihr nehmt Jatta mit. Sie ist die Wichtigste person in Eurer Gruppe, denn sie ist das Blut aus diesem Land. Sie soll die Höhle sehen, damit die Geister die Verbindung zwischen den Dunklen und den Hellen segnen. Wir stehen am Beginn eines neuen Menschseins, und dies ist Eure Aufgabe dazu.!“

Sie Sprach das alles mit dunkel grollender Stimme, als sei sie unmittelbar von den Geistern besessen, ein Trick, wie Jatta mittlerweile wusste.

„Du musst deine Stimme verstellen und mit den Augen rollen, wenn du was zu sagen hast“ hatte Urla ihr beigebracht. „Die Anderen wissen nicht, dass Deine Visionen echt sind, sie glauben dir nicht und zweifeln, aber gegen die Stimme aus der Anderswelt wagen sie nicht, dem Zweifel Raum zu geben.“

„Und hören sie denn nicht, das das gespielt ist?“

„Wenn du es spielst, dann ja. Das darfst du nie machen. Du darfst nicht Dein Wissen und Deine Macht, die damit kommt, dafür benutzen, Dir selber irgendwelche Vorteile zu verschaffen. Das muss schon alles echt sein. Deine echte Vision kannst du verstärken, indem du alles hereinlegst, was du hast. Das ist nicht gespielt, das ist mit Leben gefüllt!“

 

Das Verhältnis der Dunklen zu den hellen war ambivalent. Viele waren ganz und gar unwilllig, sich auf die Hellen einzulassen, weil sie so anders gebaut waren und ihre Sprache nicht verstanden. Man hatte auch Angst vor Ihnen, denn ihre große Geschicklichkeit, ihre Kraft und ihr Willen wirkten beängstigend. Eine Halbneandertalerin wie Jatta, die die Sprache der anderen beherrschte, war hingegen schon eher zu akzeptieren, auch wenn nicht einer unter ihnen war, der sich nicht daran störte, daß diese Jatta die wichtigste Person sein sollte. Aber was Urla sagte, zweifelte man nicht an. Man hielt ihr zugute, tatsächlich mti den geistern reden zu können, deswegen kam man zu Ostern hierher, und wenn sie sie auf eine Reise schickte, dann gab es keine Möglichkeit, sich davon auszunehmen, obwohl auch die Sippenältesten sich darüber ärgerten, daß ihnen junge und fähige Jäger so genommen würden. Aber Urla machte keine Zugeständnisse.

„Die Reise ist weit“ sagte sie, und es braucht eine Gruppe, um sie zu bewältigen. Sie brauchen Feuer, sie brauchen Kräuter, sie brauchen Werkzeuge. Sie gehen, um eine Mission zu erfüllen.“

 

 

14

 

Das Osterfest.

 

Urla sorgte dafür, daß Herme mit Jatta zusammenkam. Sie hatte die beiden zu ihren Assistenten gemacht, die dafür sorgten, daß der Trank ausgegeben wurde, jedem nach seinem Maß, das die Urla argwöhnisch überwachte. Natürlich waren die beiden jungen Menschen auch begierig darauf, den Trank auszuprobieren und an dem Rausch teilzuhaben, aber Urla vertröstete sie, und bestand darauf, daß sie ihre Beobachtungen mitteilen sollten. Wie die Stöcker im frenetischen Rhythmus geschlagen wurden und die Flöten geblasen, wie gesungen wurde. Zunächst schien es gar nicht die wilde Orgie zu sein, die Jatta als kindheitsbild fürchtete, sondern die Menschen feierten und tanzten am Feuer. Sie hatten Zeit. Jeder wusste, worauf es hinauslaufen würde, aber niemand, der aus den Kreisen des geschehens herausgetreten wäre, um schnell an das zu kommen, was er sich ersehnte. Während des Tanzes kamen Männer und Frauen zueinander. Eine Frau streckte ihren Hintern raus und ein Mann rieb sich an ihr, dann tanzten sie eine Weile in engem Kontakt, aber plötzlich lösten sie sich wieder voneinander, sprangen wie plötzlich befreit wild ums Feuer, der Mann warf sein Fell ab und sein Schwanz ragte steil nach vorne, und eine andere Frau präsentierte ihr Hinterteil und die beiden tanzten umeinander herum, bis die erste Frau wieder dazu kam und der Mann sich ihr zuwandte. Diese beiden gingen nun vom Feuer weg, und es bedurfte nicht viel Phantasie, sich auszumalen, was passierte. Aber auch am Feuer wurden die geschehnisse jetzt hitziger. Ein anderer Mann hatte sich zu der zweiten Frau gesellt, und sie tanzten in engem Kontakt. Ihre Münder trafen sich zu einem Kuss und die Hände erforschten die Genitalien und auch sie verliessen das Feuer. Andere Pärchen taten sich zusammen, und nun dünnte auch die Musik aus, weil die Musiker ebenfalls anfingen, sich zu engagieren, und bald gingen die Paare auch dazu über, direkt am Feuer, vor aller Augen, miteinander zu kopulieren. Auf einmal war alles anders. Die Urla gab Herme und Jatta ihren Trank, und sie blieben gleich sitzen wo sie waren. Erst berührte sich nur ein Fuss von ihnen, und in diese kleine Berührung kam ein plötzliches Leben, ihre Füße spielten miteinander, dann ihre Hände, dann küssten sie sich, und schon rutschten sie auf das Fell, das Urla ihnen sorgfältig bereit gelegt hatte, und Jatta spreizte ihre Beine und Herme legte sich zwischen sie. „Die Erde“ dachte Jatta, jetzt würde sie zur Erde werden und den himmlischen Samen empfangen und nun verstand sie alles, was Urla ihr gesagt hatte. Es war, als finge sie in diesem Moment erst an, zu leben. Für Herme indes war der Moment weit weniger magisch, denn sein steifes Glied hing zwischen den beiden und fand keinen Eingang. Es sah so einfach aus, wie die anderen kopulierten, aber er wusste nicht, wie es geht, und Jatta lag da mit breiten Beinen, einladend, und er versuchte verzweifelt, mit seinem Stamm das Loch zu finden, in das es hereinpasste, und als er es endlich gefunden hatte, kam er nicht weit hinein. Ein plötzlicher Schmerz durchfuhr Jatta. Sie hatte nicht damit gerechnet, das es weh tun könnte, und doch, gerade als sie spürte, das Herme in sie hereinkam, spürte sie einen stechenden Schmerz, und sie schrie auf, weil es ihr so weh tat. Nun war es an sie, die die Magie verlor, während Herme, von wilder Geilheit übermannt, sich weiter hereindrängen wollte und nicht verstand, wieso das so schwierig war. Aber mit einem entschlossenen Stoß durchbrach er das Jungfernhäutlein und glitt herein in seine Seligkeit, denn was er nun spürte war von einer Art, das er dachte, das würde er nicht einen Tag in seinem Leben missen wollen, und er spürte gar nicht, wie der Saft in ihm hochstieg, aber schon wenige Sekunden später verfloss er. Jatta spürte nur, wie der Schmerz plötzlich seinen Höhepunkt erreichte und verging, und dann, wie sie von innen ausgefüllt wurde, wie sie zur Erde wurde, und dann, wie sein Same sie ausfüllte und Herme plötzlich ruhig wurde. Erschöpft lagen sie nebeneinander, überwältigt von ihrer Erfahrung, und versanken in einen langen Kuss. Herme hatte sich immer vor diesem Kuss gefürchtet, der ihn an Jatta binden würde, weil er sie nicht hübsch fand, aber in diesem Moment begriff er, was ihr Vater gesagt hatte. „Du nimmst eine Frau nicht, weil sie hübsch ist, sondern weil euch das Schicksal zusammenführt!“ Und mit einem Mal, er konnte sich diese Veränderung nicht erklären, war Jatta hübsch. Ihre Augen unter den tiefen Augenwülsten waren ein trunkenes Meer aus einer anderen Welt, ihr Haar und ihre Haut, deren seltsame Blässe er inner für kränkllich gehalten hatte, schimmerten jetzt als Gruß aus der anderen Welt, und er begriff in einer plötzlichen Weitsicht, daß mit diesem hellen Glanz die dunklen Winter leichter zu ertragen wären, und das die Neandertaler eine Weisheit in sich trugen, die sie schon längst verloren hatten. Und er verlor sich in Jattas blauen Augen und in einem Kuss, der länger und zärtlicher nicht sein konnte, und irgendwann spürte er neue Kraft in sich aufsteigen und sie kamen wieder zusammen.

 

 

 

 

 

 

 

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